Aus dem Ruhrgebiet
Von Thomas Rothschild
Früher gab es sie zuhauf, die Liederbücher, und einige waren richtige Wälzer. Das war, als man jugendbewegt hinauszog in die Natur und gemeinsam sang, am Lagerfeuer oder abends auf der Hütte. Aus den mitgebrachten Liederbüchern las man die Texte ab, klassenbewusst kämpferische die Linken, schwärmerisch mythologisierende die Rechten, und manchmal sogar die selben rechts und links, und so viel Noten lesen konnte jeder, dass man sich mit ihrer Hilfe der Melodien entsann. Das alles ist ein wenig aus der Mode gekommen. Heute bringt der Stöpsel im Ohr die Musik, und das Naturbedürfnis wird vorwiegend vom Reformhaus befriedigt.
Da kommt denn ein querformatiges „Liederbuch Ruhr“ in der Größe eines Ziegels heraus. Ob die Lieder nun nachgesungen werden – auch die Herausgeber dürften keine großen Illusionen haben. Aber Lieder, von den traditionellen, Jahrhunderte alten bis zu den ganz neuen der Liedermacher von heute, bannen ja auch ein Stück Geschichte. Sie erzählen davon, und sie dokumentieren sie, indem sie Zeugnis ablegen von jenen, die sie einst sangen. So ist es nicht verwunderlich, dass der Kommentarteil dieses Liederbuchs ebenso umfangreich ist wie die eigentliche Liedersammlung.
Das Ruhrgebiet ist wie kein anderer Teil Deutschlands geeignet, Geschichte aus der Sicht der Malocher zu erzählen. Es ist die Geschichte der Arbeiterbewegung, teils heroisch, teils tragisch, und tot geschwiegen von Parteien und Gewerkschaften, die allesamt in die bürgerliche Mitte drängen. Da kommt dieses Liederbuch gerade recht. Männer machen Geschichte? Na ja, auch Männer – oder Frauen, Frau Bundeskanzlerin. Aber Geschichte haben auch die Bergleute gemacht und die Arbeiter in den Fabriken. Davon erzählen die Lieder, auch von schönen Momenten, aber eben auch vom Preis, den der Wohlstand gekostet hat, den andere genießen.