von Bettina Schack,
NRZ . am 18.01.2016
Zum Schluss hatte Frank Baier seine Mission erfüllt.
Ob alte Jazzer-Freunde, Interessenten am politischen Lied oder alte Lohberger, sie alle sangen am Ende des Konzertes im Ledigenheim „Auf einem Baum ein Kuckuck“ mit. Nicht als naives Kinderlied, nicht als geselliger Gute-Laune-Scherz nach einem fröhlichen Abend, sondern sich selbst die Bedeutung bewusst machend, die einst Rio Reiser Frank Baier erklärt hat: „Der Kuckuck ist das Symbol der Freiheit.“ Das Lied vom Vogel, der zwar vom Jäger erschossen wird, aber zur Freude der Menschen doch wiederkehrt, wurde in der März-Revolution 1848 und in den unruhigen Jahren 1919/20 gesungen. Und in diesem Kontext stand es auch im Konzert am Freitag auf dem Programm. Frank Baier präsentierte seine LP „Gesänge des Ruhrgebiets 1870 – 1980“.
Es sind Volkslieder im echten Sinne des Wortes. Abbildungen des Lebens, Geschichte und Soziologie eines Standes gegossen in Verse, die zu Melodien gesungen wurden, die eben den Menschen bekannt und vertraut waren, um die es in den Neudichtungen ging. „Bergmanns Schunkelwalzer“ habe sich zu seinem Favoriten entwickelt, erklärt Frank Baier. Ein Kumpel hat die Melodie von „Keinen Tropfen im Becher mehr“ mit einem eigenen Text über die Missgeschicke unterlegt, die einem Bergmann im Berufsalltag widerfahren können. Die Moral lautet „bleibet friedlich“, „es folgt ein schöner Mai stets dem kalten Winter“.
Hoffnung auf bessere Zeiten, die längst nicht jeder Bergmann des Ruhrgebiets erleben durfte. Ob im Streikjahr 1889 oder nach dem schweren Grubenunglück 1925 bei Dortmund mit 136 Toten: Die Lieder ziehen Bilanz eines ausbeuterischen Wirtschaftssystem aus dem Blickwinkel derer, die in dieser Pyramide ganz unten stehen. Löhne unterhalb des Einkommensminimums, das für ein einfaches Leben nötig wäre, Jahrzehnte der harten Arbeit ohne Absicherung. Verlust selbst noch dieser Existenzgrundlage, sollte es für andere, sprich die Unternehmer, wirtschaftlicher sein. Dutzendfacher Feuertod am Arbeitsplatz, weil nicht in die Arbeitssicherheit investiert wird, derweil steigen die Rendite. Frank Baier singt diese Lieder, regt an, über die Gegenwart nachzudenken. Erwähnt Ackermann, aber nicht die Textilindustrie in Bangladesh. Vielleicht ist die Parallele zu naheliegend.
Texte des ehemaligen Bergarbeiters Heinrich Kämpchen, der nach dem großen Streik von 1889 keine Anstellung mehr fand und sich dem Journalismus zuwandte, die erschütternde Ballade vom alten Mus, der 1920 von Freikorps-Soldaten grausam ermordet wurde. In der letzten Strophe lässt Baier seinen „pneumatischen Synthesizer“, das Knopfakkordeon schweigen, singt mit dunkler, rauer Stimme a capella in das Halbdunkel des Ledigenheims. Es ist der Moment, der am tiefsten unter die Haut geht.
Frank Baiers eigene Geschichte: Engagement in DU-Bruckhausen gegen Stadt und August-Thyssen-Hütte, Hungerstreik vor dem Rathaus gegen den Verkauf der Häuser in der Bergarbeitersiedlung Rhein-preußen in Homberg, wo er bis heute lebt. Erinnerungen an Fasia Jansen und ihre Lieder, an den Rap mit Sons of Gastarbeita. Das Ruhrgebiet im Zeitraffer, getaktet in Musik. Ein wenig Jazz schwingt in der Art, wie Baier rhythmisiert, immer mit, die Nähe zum Publikum macht er offenkundig, in dem er seine Instrumente und Noten im Saal zwischen den Stühlen und nicht auf der Bühne aufgebaut hat.
Baier blickt ins Publikum und dann in Gedanken durch die Saaltür hinaus über die Hünxer Straße, wo einst die Kaue stand, in der 1919 die „Internationale“ gesungen wurde. Ein Lied singt er nicht: „Das Steigerlied“. Zu anbiedernd gegenüber den Chefs, sei es. Stattdessen hat er die Version dabei, die auch Ernst Busch sang: „Glück auf, der Ruhrkumpel spricht“.