Lieder der siebziger Jahre

Aufbruchstimmung

3. Lieder der siebziger Jahre:
von „Schenk mir deine Wut …“ bis
„Es hat erst angefangen, wir werden immer mehr!“

Die Bewegungen in der Republik wurden diskriminiert. Der Radikalenerlaß grenzte „extrem“ anders Denkende vom Staatsdienst aus. Die Diskussionen am Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst wurden existentiell. Es roch nach Auseinandersetzung, die Spielerei war zu Ende. Etwas veränderte sich sehr deutlich an der Form und den Inhalten unserer Lieder und der Musik: Sie verloren an intellektueller Belustigung oder kabarettistischem Feinsinn mit verschraubten Wortschöpfungen und Satzakrobatik.

Das Spektrum war breit gefächert und reichte von reiner Agitation mit instrumentalisierten Liedern für Werktätige und gesungenen Parteiprogrammen bis hin zu textvermeidenden Instrumentalstücken, die sitzend zur Sitar auf dem Teppich vorgetragen wurden. Mit hartem Rock und Folk vom Feinsten, gezupft, gequetscht und teilweise hochliterarisch verarbeitet. Selbst aus dem „einen Stall“ kommend, sang der eine von Vampiren, Joints und Flipper, der andere hingegen vor Strafgefangenen seine Wutgesänge im Knast. Das umspannte „links“ dogmatische, aber auch alternative und undogmatische bis hin zu anarchistischen Streitern. Sie standen in und außerhalb der Bewegungen gegen AKW und Duckmäusertum, für Häuserkämpfe, für Indianer, für Wale.

Manche „Kulturverwalter“ im Ruhrgebiet der siebziger Jahre konzipierten sogar gerne ihre Programme in gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Kulturlagern und boten „Kultur von unten“ an. Es hing oft von der Zivilcourage der Leute im Kulturbetrieb ab, welche Liedermacher und Gruppen auf die Bühne gelassen wurden. Nicht selten ernteten sie anschließend von CDU-Ratsherren Kritik28 und mußten die Veranstaltungen mit demokratischem Liedgut mit Ausreden verteidigen.2 9 Jede Stadt hatte ihre „Haus-Liedermacher“Aushängeschild, weil die auch für das „Ruhrpott“-Image etwas hergaben.

Die „Haste Töne“-Palette30 war gut sortiert. Und wir hatten gute Vergleichsmöglichkeiten bei den großen Bühnen, Festivals, Demonstrationen und Veranstaltungen, so am 1. Mai am Ruhrfestspielhaus Recklinghausen, bei den UZ-Pressefesten oder auch in unseren „Nestern und Brutstätten“. Das reichte von „angepaßt“ und „linientreu dogmatisch“ bis „unberechenbar“ mit historischen und aktuellen Liedern, Revuen und Frauenkabarett, Straßenmusik und ausländischen Gruppen. Alle regionalen (und überregionalen) Barden und Liedersänger waren zu hören: harmlos, scharfzüngig, agitierend oder anarchistisch, manche adrett und kunstbeflissen.

Die Entwicklung der Flöhe (Floh de Cologne) aus Köln zeigt die Veränderung der Formen und Inhalte der Lieder und Musik: Zu Beginn, um 1967, noch eine Kabarettgruppe, ging es Floh de Cologne um die „Politisierung des Vergnügens“. Bei den Songtagen 1968 zeigten sie dem Publikum noch die nackten Hintern. Sehr bald danach ließen sie mit Rockmusik die „Ärsche oben“ nackt aussehen. Sie zeigten Zusammenhänge auf, um das gesellschaftliche System zu erkennen, zu entlarven, zu verändern. Mit dem radikalpolitischen Ansatz ging eine Veränderung der musikalischen Plattform einher, über Beat („Fließband-Baby“) kamen sie zum Polit-Rock.

Es hat erst angefangen
Sprecht miteinander!
Lernt euch zu wehren!
Macht euch Mut!
Es hat erst angefangen
Wir werden immer mehr
Wir haben erst angefangen
Wir werden immer mehr
(Auszug, Text & Musik: Floh de Cologne aus der Rock-Oper “Profitgeier”31)

Mit solider Rockmusik wurden Geschichten erzählt, z. B. die von den Flöhen eben oder die von Franz K. aus Witten mit ““Sensemann, Das Goldene Reich“.32 Als „Belohnung“ wurden solche Rockgruppen von den Printmedien geschnitten und von Funk und TV totgeschwiegen.33 Bundesdeutsche Kultur-Realität hieß: einfach ignorieren.

Nicht ganz so hart ging es im Bereich der Folk-Rock-Gruppen und der Liedermacher zu. Aber zu beklagen brauchten wir uns auch nicht. In schöner Regelmäßigkeit wurden – legitimiert durch die RAF-Hysterie – ganz „spezielle“ Musik-Truppen auch aus dem Ruhrgebiet mit ihren Bandtransportern auf Tour von Polizeistreifen gestoppt und komplett durchsucht.

Karriere der Marion S.

Schenk mir deine Wut
Ich kann sie gebrauchen
Schrei denen ins Gesicht
Die dir die Knochen stauchen
Was nützt es, wenn du wieder schlägst
Nur deine Haut zu Markte trägst
Zu viele, die dich mangeln woll’n
Zu viele, die dich überroll’n
Na heul’ schon, weil du hilflos bist
Und schenk’ mir deine Wut
Ich kann sie gebrauchen …
(Auszug, Text & Musik: Frank Baier,
aus: “Lieder vor und hinter Gittern”, gesungen von der Gruppe Kattong 34)

PLAKAT - Kattong - Lieder vor und hinter Gittern
PLAKAT – Gruppe Kattong – nach 5 Jahren Trennung – Lieder vor und hinter Gittern

Das Programm „Von Trips und Träumen“ von Witthüser & Westrupp war politisch nicht ganz so gefährlich. Aber auch in diesem Fall durfte nach Dope gesucht werden.

Auch wenn man Bröselmaschine hieß, lag das nahe. Peter Bursch spielte mit seiner Band vorwiegend Instrumentalstücke, trat aber verstärkt in der Jugendzentrumsbewegung auf. Er gehörte zu den Mitbegründern des autonomen „Esch-Hauses“ in Duisburg.

Durch Bernd Witthüser bekam das Lied „Beine“ und lief der „alten Klampfe“ weg. Er war prägend für die Generation von Liedermachern der siebziger Jahre im Ruhrgebiet. Und er „flog“ schon, während dieser erst die Flügel wuchsen. Unberechenbar mit unserer – wie sie es nannten – „Kultur von unten“ wurden wir für die „Statthalter“ dann, wenn die Aktionen und Demonstrationen aus der Bewegung geboren und durchgezogen wurden, wenn „der Deckel abhob“ oder der ““Pott kochte“, wenn wir in Kalkar von der Wiese gespritzt wurden und der Bauer Maas dringend Unterstützung brauchte. Oder dann, wenn die glühende Kokstonne vor den Werkstoren unsere steifgefrorenen Finger wieder „gitarrenfähig“ machte und wir noch „’n Brikett“, also ein Lied, nachlegten, um die Jungs beim Stahlstreik bei der Stange zu halten.

Die Szene wurde für die Kulturämter auch unübersichtlich, weil wir überregionale oder sogar internationale Unterstützung von Liedermachern, Kabaretts und Bands erhielten: So von den Schmetterlingen aus Österreich, die zufällig auf Tournee durch das Ruhrgebiet fahren. Und Wolf Biermann kam. Sofort wurden Streikversammlungen zu Solidaritätskonzerten. Verknüpfungen und Vernetzungen entstanden, Schallplatten für Unterstützungsfonds wurden aufgenommen, gemeinsame Aktionen liefen, um denen oben „’n bißchen Zucker in’n Tank zu schütten“. Mit „Kultur von unten“ oder „wie hätten Sie’s denn gern.“

Laß uns auf die Reise gehn …:
Musikszene im Pott – Der Stall Witthüser & Westrupp

“Liederliche” Verknüpfungen durch Lieder, Stammbäume der Liedermacher, musikalische Seelenverwandtschaften und Musikfamilien; tragische Bruderschaften von Sängern mit Hochzeiten und Trennungen, Neu- und Wiedergeburten von Formationen, Seilschaften von Textern und Sängern … Die ganze Musikgeschichte ist voll davon – auch im Ruhrgebiet.

Laß uns auf die Reise gehn …

Laß uns auf die Reise gehn, unser Land zu suchen
Wo die Heimat der schreitenden Reiher ist
Der Sommer den Tieren im Maule liegt
Und wo es keine Tränen gibt –
in stillerer Landschaft

Laß uns auf die Reise gehn, unser Land zu suchen
Wo du den Sommer ohne Whisky erträgst
im Winter ohne Kohlen auskommst
und die Liebe nicht müde macht –
in stillerer Landschaft

Leg dir etwas Kleingeld hin, das Kleingeld der Träume
Übe die Lieder von Abschied und Ankunft
Der Abschied ist leicht und die Ankunft ist schwer
Der Rückweg ist dunkel und weit –
aus stillerer Landschaft

Laß uns auf die Reise gehn, unser Land zu suchen
Wo Mauern und Zäune schon abgebaut sind
Wiesen ohne Kettenspur grünen
Und wo du ohne Geschrei stirbst –
in stillerer Landschaft

(Text: Thomas Rother, Musik: Bernd Witthüser,
gesungen von Witthüser & Westrupp3 5)

Hier ist nur ein Beispiel für diese Verknüpfungen, für die Beeinflussung und musikalische Entwicklung, für andere Wege, die gegangen, und völlig andere Felder, die von Liedermachern und Musikern betreten werden, die aus „einem Stall“ kommen,
z. B. aus dem Stall „Witthüser & Westrupp“, Essen.

Foto 1395

Witthüser & Westrupp:
Nimm einen Joint, mein Freund. Schallplatte von Ohr.

Bernd Witthüser arbeitete 1966/67 mit dem Texter und Journalisten Thomas Rother aus Essen zusammen. Aus dessen Zyklus „Arschleder zwickt“36 vertonte Witthüser seine ersten Lieder. Er sang sie als „Protestsänger des Ruhrgebiets“. Witthüser traf Walter Westrupp, den er schon aus der Essener Skiffle-Szene kannte. Sie spielten gemeinsam Straßenmusik. Eine Sternstunde war das erste Konzert des Duos Witthüser & Westrupp mit „Liedern von Vampiren, Nonnen und Toten“ im November 1967 im Jugendzentrum Essen Papestraße. Das Duo startete 1968 noch als „Pop-Cabarett“ in Essen. 1970 war das Programm „Von Vampiren, Nonnen und Toten“ reif für die erste Langspielplatte. 1971 tourten Witthüser & Westrupp mit ihrem Programm „Von Trips & Träumen“ durch Deutschland.

Sie wurden zur Kultgruppe mit dem Hit „Nimm einen Joint, mein Freund“, verstärkt durch Curny Roland am Baß. Der zentrale Titel lautete: „Laß uns auf die Reise gehn“ mit dem Text von Thomas Rother. Noch 1971 gab es eine Tournee mit „Jesuspilz – Musik vom Evangelium“, uraufgeführt groteskerweise in der Apostelkirche in Essen-Frohnhausen, die zum SzenenLager mit „Gras“ und Schlafsäcken bis hoch auf die Empore wurde. Der Pfarrer wußte vorher gar nicht, „wo die Glocken hingen …“. Bernd und Walter, mittlerweile berühmt, zogen sich völlig zurück und siedelten nach Dill in den Hunsrück – Rückbesinnung im Landleben. Die LP „Bauer Plath“ produzierten sie 1972 im Studio Dieter Dierks, des Ton-Gurus der deutschen Popszene. 1973 trennten sich die beiden.

Witthüser, Westrupp und Baier kannten sich auch vom Skiffle der sechziger Jahre her. Baier übernahm und sang Witthüser-Vertonungen der Rother-Texte in Konzerten. Er vertonte seit ca. 1968/69 Rother-Texte für seine erste LP „Gitarre vorm Bauch“, gemeinsam mit dem Sänger und Texter Rolf Hucklenbruch (Gitarre) und dem Musiker Harald Golbach (Percussion). Hieraus entstand 1970 die Gruppe Kattong in Duisburg. Sie spielte von 1970–76 Folk-Rock, sang politische Lieder und initiierte Aktionen der Strafgefangenenhilfe (ASH). Es waren Knastkonzerte mit dem Programm „Lieder vor und hinter Gittern“, das aus eigenen Liedern und Texten und solchen der Autoren der Literarischen Werkstätten im Ruhrgebiet gestand: „Diebstahl lohnend“, „Karriere der Marion S.“, „Kattong-Blues“ u. a. Es folgte ein Programm „Von nix kommt nix“ mit Konzerten für Fürsorgezöglinge, Hausbesetzer und Strafgefangene. Baier stieg 1973 aus der Gruppe und war kurze Zeit solo unterwegs.

Dann trafen sich Walter Westrupp und Frank Baier erneut. Die musikalische Plattform war Skiffle (früher Night-Revellers, Saints Ramblers, Essen). Beide spielten u. a. Ukulele, Gitarre und Mundharmonika. Beide texteten und komponierten (u. a. Kinderlieder). Beide sind vom Sternzeichen „Wassermänner“ – das konnte nicht gut gehen. Durch die Lieder kamen sie zur TV-Kinderserie „Familie Zisch“. Das Duo Baier & Westrupp bzw. BaierWestrupp brachte bereits 1973 erste Konzerte. Einen ersten Live-Mitschnitt von Baier & Westrupp gab es auf der Veranstaltung ““Deutsche Liedermacher – Songfestival Ingelheim“, 1974 (2 LP). Und die LP „Dat muß doch auch wat Späßken bringen“ erschien 1976 beim Verlag pläne. Gleichzeitig erweiterte sich die Walter h.c. Meier Gang – Walter Westrupp, Harry Horstig (Gitarre), Curny Roland (Baß), Wolfgang Klasmeier (Schlagzeug, Waschbrett) – durch Frank Baier alias „Pumpe“ (Spitzname aus frühen Skifflezeiten) mit „verstärkter“ Lead-Ukulele; zeitgleich mit Baier/Westrupp. Die neue Essener Skiffle-Truppe Walter h.c. Meier Pumpe37 von 1974 „pumpte den Skiffle aus dem Boden“ – furios, unaufhaltsam und deutschsprachig. Alle Musiker waren „alte“ Skiffler aus den sechziger Jahren, mit zwei Songschreibern und Frontleuten mit Ukulele, fünfstimmigem Gesang, zum Teil a cappella. Es erklang eine Mischung aus Blues-Skiffle-Folk-Rock-Pop – völlig respektlos und mit einer unbändigen Lust und Spielfreude. Die erste LP „Walter h.c. Meier Pumpe“ erschien 1976 bei Songbird, Electrola, mit „Der kleine Musikant“, „Baby Barré“, „Segeroth-Skiffle“ u. a.

Segeroth Skiffle oder
Regen aus Kohlenstaub

Als er noch ein kleiner Junge war
Mit kurzen Hosen und dreckigem Haar
Vom vielen Rauch und Regen aus Kohlenstaub
Spielte ich auf ’nem Kamm für die Tille vonne Köttelbecke
Wir tranken Knickerwasser vonn Bude anne Ecke
Mein Zuhause, das war der Segeroth …

Als er dann mit 30 schon arbeitslos war
Mit Schlabberhose und Rotze im Haar
Un die Kinder anne Ecke riefen: Ey, Papa
Da holt’ ich den Gitarrenkoffer aus dem Schuppen
Um mit den Seegern von früher wieder Saiten zu schruppen
Denn bei sonne toften Musik wird uns alle so schön warm

Dann machen wir Skiffle aus dem Kohlenpott
Dat is Musik fürn Sack und ne Musik fürn Kopp
Dat Zeug geht los und wärmt dir jeden Knochen
Und dat Blut inne Pumpe fängt am Kochen
Und bei die Tillen geht et meistens inne Fott

(Auszug, Text & Musik: Frank Baier, gesungen von Walter h.c. Meier Pumpe 38)

Die Gruppe tourte regional und überregional durch große Bühnen sowie Jazz- und Szenekneipen zwischen Düsseldorf (Musentempel) und Hannover (Ei in Linden). Curny stieg aus – nach einem Musentempel-Konzert: Er war der einzige, der den gelben Opel Blitz noch fahren konnte. Der Rest der Truppe war „breit“ und nörgelte hinten im Bus herum. Curny machte mitten auf dem Breitscheider Kreuz eine Vollbremsung, die Boxen und Mikroständer rasten nach vorne.
Er stieg aus, sein langer weißer Staubmantel verschwand bei Nacht und Nebel im Scheinwerferlicht. Dunkelheit – Ratlosigkeit … Curny fuhr nach Formentera und macht eine Kneipe auf. Baier setzte sich persönlich, politisch und textmäßig selbst ins Abseits und stieg Ende 1976 aus.

Walter h. c. Meier Pumpe veröffentlichte danach weitere Platten, u. a. „Unterwegs“ 1977 und „Verkehrshinweise“ 1980. Harry Horstig wurde 1979 „gegangen”“. Neue Besetzungen kamen, neue Programme erschienen und wurden kommerzieller, darunter “M.I.S.T.” (Meier’s International Show Time). Westrupp verließ die „Pumpe“ 1984. 1985 löste sich Walter h.c. Meier Pumpe auf.

Wo ist Bernd Witthüser? Immer noch auf der Reise quer durch Europa und die halbe Welt – eine Reise, die bis heute andauert. Unter dem Künstlernamen Bärnelli wurde er wieder Straßenmusiker. Beim Zwischenstop in Berlin lernte er den Geiger und Straßenmusiker „Otto“ kennen. Die beiden gingen ab 1976 europaweit auf die Walze, landeten in Italien, wurden dort als Duo Otto & Bärnelli entdeckt und durch eine große Fernsehshow berühmt. Sie zogen 1976 in die Toscana als „professionelle“ Straßenmusiker. Witthüser wohnte in einem Bauwagen solo mitten in der Pampa. Eine LP mit eigenen Liedern erschien 1985: „Bernd Witthüser – Alte Rezepte“39 , mit „Schiffbruch“, „Eidechsen-Galopp“ und dem Shakespeare-Text „Alte Rezepte“ überwiegend in der Bundesrepublik aufgenommen. Ein CD-Sampler von 1996 liegt bei Trikont vor: Otto & Bärnelli mit „LaGerleitung OHe“. Das Duo ging wiederholt auf Welttournee, u. a. nach Japan.

Was macht Walter Westrupp? Seit seinem Ausstieg aus der „Walter h.c. Meier Pumpe“ lebt er zurückgezogen von der Musikszene in Essen.

Und Curny Roland? Er wohnt immer noch auf den Balearen, Formentera, als Lebenskünstler, Aussteiger, Globetrotter. Der Baß hängt am Nagel.  Harry Horstig „wizzelte“ weiter mit der Gitarre. Er führt ein Doppelleben als Ingenieur und Musiker in Essen und ist ein gefragter Gitarrist in der Blues-, Rockund Skiffle-Szene des Ruhrgebiets. Er ist Gitarrist und Saitenvirtuose bei der Uralt-SkiffleFormation Some Old Friends in Essen.

Frank Baier arbeitete bis zum Abwinken als Ingenieur und Musiker in Duisburg und gleichzeitig als Liedermacher, Autor und Liederforscher. In der Zeit nach Walter h. c. Meier Pumpe entstand eine Sammlung „regionales Liedgut“. Baier ist gemeinsam mit Detlev Puls Herausgeber des Werks „Arbeiterlieder aus dem Ruhrgebiet“ (S. Fischer Verlag) und spielte 1981 die Solo-LP „Auf der Schwarzen Liste“ ein. Eine Konzerttournee führte ihn 1982/83 nach Madagaskar und eine Tournee mit der madegassischen Gruppe Rossy durch die Bundesrepublik. 1983–86 entstanden das Programm und die LP „Türkisch-deutsche Lieder“mit Mesut Çobançao Šglu. Baier schrieb Lieder und Texte im Kampf um die Zechenkolonie „Rheinpreußen“ in Duisburg-Homberg. Dabei entstand die EP „Rheinpreußen ruft Alarm“. 1988–95 driftete er durch sein Engagement im Obertonchor Düsseldorf als Obertonsänger etwas vom Weg ab.40 Er baute sich 1991 bei einem Meister eine eigene Harfe, wurde Harfenschüler an der Niederrheinischen Musikschule in Duisburg und ist auf dem Weg zu neuen Ufern.

Und Meier, alias Wolfgang Klasmeier? Sein Doppelleben changierte zwischen Handel und Musik. Eine Zwischenstation führte ihn ins Skiffle-Auffangbecken Some Old Friends. Er gab sein Letztes für eine gute Abfahrmusik und eine gute Schießbude, koste es, was es wolle. Meier baute 1986 die Rock- und Funk-Maschine Camaleo mit Bläsersatz und „Vokal-Frauen“ inklusive Probenraum in Essen auf, eine Soul-lastige Bühnenshow, u. a. mit „Bubi“ Scholz. Ein besonderes Konzert der Walter h.c. Meier Pumpe fand am 23. Oktober 1999 unter dem Titel „Die Legende lebt“ in alter Besetzung statt.

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Walter h.c. Meier Pumpe, Essen 1975. Foto: unb.

Nester und Brutstätten

Die Bewegung gründete und fand ihre Orte, Nester und Brutstätten. Jugendzentren (städtische und selbstverwaltete), Szenekneipen, Kulturhäuser und -initiativen, Verlage, verteilt über das Ruhrgebiet, zwischen Duisburg und Dortmund. Es gab Auseinandersetzungen mit SPD-Stadtverwaltungen und mit Ordnungshütern, Eingriffe in die gerade aufblühenden Selbstverwaltungen, Drohungen und Abrisse von Häusern mit Polizeieinsätzen (Eschhaus, Wischlingen), schließlich auch Kürzungen der Kulturgelder unter Einflußnahme auf Programme und Inhalte. Der Radikalenerlaß ließ grüßen.

Warum heißt die „Kultur-Fabrik“ in Oberhausen „K 14“? Weil das die amtliche Kurzbezeichnung der Polizei für das ““politische Kommissariat“ ist. Das sind die Leute, die auf dem Balkon hocken, einen Pappkarton über dem Kopf mit einem faustgroßen Loch vorne für die Kameralinse, damit sie uns bei der Demonstration für die Ermittlungsakten fotografieren konnten. Die Szene allerdings fotografiert sie auch – von einer Etage darüber. Das sieht lustig aus. Direkt neben „K 14“ ist der Asso-Verlag gelegen, der Arbeiterliteratur, politische Werke und Liederbücher herausbringt („Lieder gegen die Bombe“, „Politische Lieder“ usw.). Es ist ein Hinterhofnest, in dem nicht nur die Demonstrationen vorbereitet werden und das Chile-Komitee tagt. Es wird Jazz von „Kuro“ gemacht, es werden Lieder von Fasia gesungen.

Beispielhaft ist auch die Besetzung, der Aufstieg des selbstverwalteten Zentrums Wischlingen und die Zerstörung durch die Dortmunder Revierpark GmbH. Es war Nest und Brutstätte der Dortmunder Musiker und Folk-Rock-Szene um Pit Budde, Fred Ape und andere.41 Der Wahnsinn verkam im Revier zur Methode: Erst waren die Selbstbestimmungsmodelle Aushängeschilder der Städte für fortschrittliche Kulturarbeit, dann erfolgte der Abriß durch die Bagger. Die Liedermacher und Musiker des Ruhrgebiets waren von diesen Aktionen nicht zu trennen. Sie stellten eine Gegenöffentlichkeit her als Regulativ für die Presseund Medienberichterstattung.

Erinnert sei an die Kulturnester:  Bochum: Fabrik (Hermannshöhe, Seifert), Abriß; Alte Mensa, Uni Dortmund: Fritz-Henßler-Haus (städtisches Jugendzentrum); Wischlingen (1972–77, autonomes Zentrum in Selbstverwaltung), Abriß; Wörthstr.; Fuchsbau; besetzter Heidehof; Verlag pläne. Duisburg: Eschhaus (gegründet ca. 1972; autonomes Jugendzentrum, Abriß); Shalom, Der Laden, Finkenkrug, Bürgerhof (Szenekneipen), Rheinpreußen-Kolonie (Siedlungskämpfe, Abriß), besetzter Bahnhof Neumühl (in Selbstverwaltung, Prozesse); Internationales Zentrum (Ausländerkulturtreff) und Exile (Kulturkooperation), Fabrik, Siegstraße, Junkernstraße, Burgacker. Essen: Podium (Szenekneipe); Städtisches Jugendzentrum Essen (JZ Papestraße); Hausbesetzung in der Segeroth-Straße, Villa Berkel u. a.  Gelsenkirchen: Pappschachtel (städtisches Jugendzentrum), Hausbesetzung in der Auguststraße.  Mülheim (Ruhr): Malzfabrik, besetzt.  Oberhausen: Asso-Verlag (Liederbücher, Lieder gegen den Tritt, Schlaraffenland), K 14 (Kulturfabrik Lothringer Straße), Eisenheim-Siedlung.  Recklinghausen: Junges Forum im Ruhrfestspielhaus, DGB (1. Mai, politisches Theater)  Witten: Folkclub Witten (seit 1974 bis heute), „Folk-Mutter“ Hildegard Doebner, Kinderstube und Zentrale der Folk-Szene im Ruhrgebiet, internationale Gäste. Motto: „Wir sind der Folk“.

Kurze Übersicht weiterer Liedermacher, -sänger und -gruppen in den siebziger Jahren 42

  • Fred Ape, Dortmund: Lieder und Songs seit 1973, Falken, Arbeiterjugendtag (Sporthalle Köln); LP „Mein Job wird immer härter“, Falkensampler 1978, Wischlingen, Häuserkämpfe, später Folk-Rock mit Beck und Brinkmann.
  • ASH Pelikan, Duisburg: Songschreiber, solo 1972–77, Kant-Park-Szene, Eschhaus, Bluesund Rockmusiker, Sessions-Bands u. a. „Duisburger City Rock’n’ Roll All Stars“.
  • Beck & Brinkmann, Dortmund: Politische Lieder, Wischlingen, Friedensbewegung und Besetzungen. Gegen Neonazis. Folk-Rock mit Ape.
  • Peter Bursch & Bröselmaschine, Duisburg: Pop-Formation, Instrumentalstücke,

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Fasia Jansen. Foto: unb.

 

Schöner Wohnen – Abber fix! Nach dem Motto:
“Lieder, Reggae, Rock und Dampf – Kohle für den Häuserkampf”.
Aufgenommen am 28. und 29. Oktober 1981 in Bochum und Mülheim. Der Erlös aus dem Schallplattenverkauf ging an den Rechtshilfefonds für Hausbesetzer im Ruhrgebiet.

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Schöner wohnen – abber fix –
LP – Cover: Jo Son.- pass op.

  • Peter Bursch: Gitarrencrack, Sitar, Jugendzentrumsbewegung, Eschhaus; später „Gitarrenlehrer der Nation“, veröffentlicht Gitarrenschulen ohne Noten: „Gitarren-Buch 1 und 2“, später „Das Folk-Buch“; LPs „Bröselmaschine I und II“, „I feel fine“, 1978 u. a. mit Klaus Dapper (sax), Willi Kissmer (git). LP „Peter Bursch“ 1981 mit Song „Steig ein in meine Welt“.
  • Pit Budde, Dortmund: Straßenmusiker 1968–72, Gitarrist, Songschreiber, Jugendzentrumsund Bewegung, vorher Barleycorn, Manderley; Wischlingen, später: Cochise.
  • Dicke Lippe, Bochum: Seit 1978, FolkDuo, rotzfreche Ruhrpott-Sprache, Szene, Folkclub Witten, LP „Jagdfieber“, gegen Resignation mit Humor und angewandtem Mut, später Geier Sturzflug.
  • Fasia, Oberhausen: Volkssängerin, Ostermarschiererin von 1960–97, politische Lieder gegen Vietnam, Atomwaffen, Rassismus, Gewalt, sang mit den Frauen vor Ort: z. B. den Hoesch-Frauen, den Rheinpreußen-Leuten beim Hungerstreik 1979, für die Gewerkschaftsjugend beim Antikriegstag, LP „Fasia“, 1975 mit „Erwitte-Lied“, „Lied vom Beitrag“, „Arbeitslosen-Blues“.
  • Frank der Schwartenhalß, Duisburg: Traditionelle Lieder und Instrumentalstücke, Rauf& SaufLieder, Mittelalter; Tänze zur Drehleier, Flöten, LP „Spielmannslieder“, Duisburger Szene.
  • Franz K., Witten: gegründet 1969, Gebrüder Peter & Stefan Josefus, Rockmusik, harte aggressive Texte und Musik, Jugendzentrums-Bewegung, autonome Gruppen: Gründer Rock gegen Rechts, Arbeitslosigkeit, Krieg. LP „Das Goldene Reich“, „Sensemann“ (1972), „Rock in Deutsch“ (1973) und später „Bock auf Rock“ und „Geh zum Teufel“.
  • Krempeltiere, Duisburg: seit 1976, IG-Metall-Jugend, Songgruppe, Stahlstreik 1978–79, Festival des politischen Liedes, Prag 1977, u. a. Schorsch Horward.
  • MEK Bochum, Bochum: Straßenmusiker 1976–82, Volks-Punks, Reggae, Aktionen, Demo gegen Paragraph 88 a, Zensur, für Hausbesetzer-Szene, Friedensdemo, AKW Brokdorf, Mobile Einsatz-Kapelle u. a. mit Roman (b), John (git), Lutz (Geige), Doro (Cello), Vocal: alle singen, LP „Trödel Jödel“, 1979, „Kleine Militanz Musik“, 1981, Brokdorf-Sampler „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“ mit „Rasterfahndung positiv“.
  • Stahlkocher, Dortmund: Agit-prop-Veteranen der ersten Stunde, alte Songgruppe, Streikund Gewerkschaftslieder, traditionelle Arbeiterlieder, u. a. Franz Lopateki, Sänger.
  • Stefan Stoppok, Essen: Seit 1973, Volkslied, traditionelle Lieder und Straßenmusik bis 1977, Folk-Duo Stoppok & Porada; Krautrockband Schröder u. a. mit „Wenn ich an der Wupper schnupper“. Bluegrass, Gitarrencrack, Einstieg über Folkclub Witten, eigene Songs seit 1977/78, u. a. “Gelbes Pferd, grüner Bär”; Musik zu Texten von Uwe Wandrey, Weigand, B. Conrads u. a., später StenderBand u. a. mit Julian Dawson, Tourneen und Konzerte.
  • Teewurzelloewe, Duisburg: Songgruppe, traditionelle Lieder, politische Lieder, u. a. Brecht, Agitprop.
  • Was-tun-Band, Essen/Oberhausen: 1974–80, Industrie-Rock, LP „Zwischen Kokerei und Kanal“, 1975, und „Juke-Box“, 1978, Polit-Rock mit deutschen Texten, u. a. Dieter „Bubi“ Scholz, Frontmann.
  • Ährwin Weiss, Castrop-Rauxel: Schlagersänger seit Anfang der siebziger Jahre, populärer Entertainer, Single-Hit „Wenn dich dat Mäusken beißt“, LP „Da kenn ich nix, da bleib ich Kumpel“, 1977.
  • Werner Worschech, Bottrop: seit 1972, Liedermacher, eigene Lieder, trad. Liedgut, Vertonungen von Texten u. a. von Autoren der Arbeiterliteratur-Werkstätten. LP „Kohlengräberland“ (1978) als Hommage an den Arbeiterdichter Heinrich Kämpchen (um 1889). Sampler: „Mein Vater ist war Bergmann“ und „Vom Pütt und vonne Maloche“ (1980), u. a. mit Fasia und Frank Baier und „Nürnberger Bardentreffen“ (1978).

Trauriger Mann Blues

Mann, bin ich einmal sauer, dann sing ich den bösen Blues
Und ich red mit meinem Freund darüber, was man tun muß
Warum soll’n wir unten sauer sein, damit oben alles lacht
Genau das war’s, das habn wir falsch gemacht

Peter Kaiser und Klaus der Geiger. Foto: Ines Kaiser.

Die einen hören auf zu wählen, weil sie nicht mehr wolln
Die andern fangn zu schießen an, soll den Staat der Teufel holn
Der Dritte macht die Matte kahl und sagt: Ich steig jetzt aus
Doch das hilft uns allen nicht aus der Scheiße raus

Hör bloß nicht auf zu singen, auch wenn du traurig bist
Ich werde weiter singen, obwohl mir’s danach oft nicht ist
Mann bist du einmal sauer, dann sing auch mal den Blues
Das heißt längst nicht, daß alles traurig bleiben muß

(Auszug, dt. Text: Frank Baier, Musik: trad. “Worried Man Blues”, 1975/80, gesungen von BaierWestrupp
43 und Walter h.c. Meier Pumpe)

Leben – Kämpfen – Solidarisieren:
„Kultur von unten“ oder ““Wie hätten Sie’s denn gerne?“

Wenn wir aus unseren Nestern und Brutstätten nach draußen mußten, weil Aktionen anstanden, ob in Kalkar, Duisburg-Bruckhausen, vor Thyssen Tor 1, bei den Hausbesetzern oder den Zechensiedlungen, denen der Abriß drohte. “Raus, nach draußen, Jacke an. Gitarre unter’m Arm.” Hier, vor Ort, entstanden die neuen Lieder. So wurde „Ein kapitales Schwein scheißt in den Vater Rhein“ bei der Demonstration gegen das petrochemische Werk der Veba im Orsoy-Rheinbogen im Juni 1971 gesungen.

Rotes Liebeslied

… ich ging weil ich für Wärme
Und auch für Dicke schwärme, mit ihr ins Ufergras
Der Rhein floß dumpf und träge
Wir wippten in der Schräge und hatten unsern Spaß
Wir sind ins Gras gesunken
Sie hat mich ausgetrunken
Und so beim Niedersinken
Begann der Rhein zu stinken

Ein kapitales Schwein scheißt in den Vater Rhein
Es tut auf Uferwiesen Chemie die Lieb’ vermiesen
Mein Schatz es stinkt auch balde im schönen deutschen Walde
Beim Regnen, mußt du wissen tun nicht nur Engel pissen…

(Auszug, Text : Thomas Rother,
Musik : R. Hucklenbruch, gesungen von der Gruppe Kattong 44)

Foto 1401

“Rhein! Betreten verboten”
Karikatur mit dem Text: …
“wenn das Wasser ist, bin ich Jesus;” von Walter Kurowski, Juni 1971.

Th Rother liest 1971

Thomas Rother liest den Text “Rotes Liebeslied” – auf dem LKW-Anhänger.
“Ein kapitales Schwein scheißt in den Vater Rhein…”

Das Lied wurde auf der Kuhwiese im Orsoy-Rheinbogen vom LKW-Anhänger gegen das Veba-Werk gesungen. Die letzte Frischluftschneise vom Westen her für das Ruhrgebiet schien mit der geplanten Anlage verloren. So verfehlte das Lied seine Wirkung nicht. Es kam auf den Index „Pornografie“ und durfte – zunächst in Bayern – nicht mehr gesendet werden. Grund genug für die Jusos in NRW, das „Rote Liebeslied“ als Single unter die Leute zu bringen.
Das Werk wurde nicht gebaut – nicht dort, nicht bis heute.

Kattong Liebeslied 72 1

Single:
“Rotes Liebeslied” – verboten

Sternstunden von „Leben – Kämpfen – Solidarisieren“ waren die Konzerte in der Grugahalle Essen gegen AKW, Zensur, Unterdrückung und Mietwucher. Von dem vom 27. und 28. November 1976 wurde eine Doppel-LP veröffentlicht, organisiert vom Spanischen Kulturkreis in Essen.

Der meinte dazu: „…
Wir haben dieses Fest ›Leben – Kämpfen – Solidarisieren‹ genannt, weil wir meinen, daß Leben sehr schön ist, daß sich aber dieses Leben nicht lohnt, wenn man nicht kämpft, um seine Werte zu verteidigen, daß dieser Kampf aber nur zu gewinnen ist, wenn wir uns helfen, wenn wir solidarisch sind. […] das ist keine Parole, sondern ein politischer Inhalt, der unsere Arbeit in Zukunft bestimmen muß. […] es geht um Zusammenarbeit unter den Betroffenen selbst, unter denjenigen, die keine starken Parteien, keine Gremien und Apparate hinter sich haben, die auf ihre eigene Kraft angewiesen sind.“45

Die Gruga-Halle platzte aus allen Nähten – 20 000 Leute. Initiativen aus dem Ruhrgebiet informierten über ihre Arbeit mit Ständen, Filmen und Dias. Es ging gegen AKW und Umweltdreck, gegen den Abriß von Zechensiedlungen, gegen die Privatisierung und den Mietwucher, gegen den Autobahnbau und mehr. Es kamen Initiativen aus Betrieben, Krankenhäusern, Jugendzentren, es kamen Ausländergruppen, Schwule, Kinder – alle.

Und es gab regionale und internationale Unterstützung für das Ruhrgebiet, Liedersänger und -gruppen, Kabarett und Volkstheater, so aus Köln der Straßenmusiker Klaus der Geiger, auch „Der Wahre Anton“ mit Heinrich Pachl und Richard Rogler; aus Berlin die Gruppe Ton Steine Scherben (Rauchhaus-Song, Guten Morgen). Liedermacher waren dabei: Wolf Biermann, Frank Baier und Walter Moßmann (Wyhl, Dreiländereck). Aus Italien, Spanien, Chile, Portugal und Uruguay trafen u. a. Franco Trincale, José Alfonso, Isabel & Angel Parra, Quintin Cabrera, Velaquez, de Sevilla ein.

Die Initiative des Spanischen Kulturzentrums war beispielhaft: Ein riesiges Fest wurde gefeiert, die Initiativen knüpften Kontakte, die vielbesungene Solidarität wurde Wirklichkeit, der Erlös der Schallplatte und der Veranstaltung gingen in die Initiativarbeit gegen Repressionen in der Bundesrepublik. Aus jener Zeit stammt auch der Spruch: „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!“

Ballade vom zufälligen Tod in Duisburg

Im Jahre dreiundsiebzig kam
Ein Mann umsonst zu Mannesmann
Der war entlassen, so über Nacht
Der hat im Streik zu laut gedacht
Und sich um seinen Job gebracht
Im Juni vierundsiebzig dann
Klagte er gegen Mannesmann
In Duisburg vor dem Arbeitsgericht
Ach, das Gericht war taub und blind
Recht gegen Reichtum gibt es nicht
Im Gerichtssaal war es heiß
Mancher Mann schrie laut, wie ich weiß
Und ein Gesang kam aus dem Geschrei
Die ›Internationale‹ tönt
Häßlich im Ohr der Polizei
Die schlugen zu
mit kaltem Blut
Ich weiß, die schlagen gern und gut …
… Günter Routhier war auch dabei …
(Auszug,
Text: Walter Moßmann, 46 Musik nach dem französischem Volkslied „Le roi a fait battre tambour“)

Von den “Liedern gegen Atomenergie” ist vor allem die Aktion für Bauer Maas zu erwähnen – der Bauer aus Hönnepel bei Kalkar.

Bauer Maas Front

Die LP heißt
Bauer Maas – Lieder gegen Atomenergie “ (pass op, 1978).

Lied vom Bauer Maas

… um den Prozeß für uns zu führen
Als einzelne Person
Dafür brauchen wir ’ne Menge Geld
Na und, was macht das schon
Die kriegen wir zusammen
Und wenn wir singen geh’n
In Kalkar soll kein Kraftwerk
kein Schneller Brüter steh’n …
(Auszug, Text und Musik: Frank Baier)

1978 waren die Kosten für Prozesse gegen die Baugenehmigungen des „Schnellen Brüters“ aufzubringen. Es ging um 50 000 DM. Wir bekamen sie mit den „Holländern“ gemeinsam annähernd zusammen. Bauer Maas hielt seinen Kopf – und mehr als das – dafür hin. Als einzelne Person, stellvertretend für uns alle, prozessierte er bereits seit 1972 gegen das AKW und trug als Einzelkläger auch das Risiko der hohen Kosten. Wir wollten keinen Schnellen Brüter vor unserer Haustüre, wie er ihn bekam. Und deshalb unterstützten wir diesen mutigen Landwirt und Querkopf. Die Resonanz der angeschriebenen und befreundeten Musiker war ermutigend: Lieder wurden neu geschrieben, Texte entworfen, tagelang im Studio neue Stücke aufgenommen.47 Die AKW-Bewegung zog mit, kaufte und vertrieb. Die LP „Bauer Maas“ ging in die 2. und später in die 3. Auflage. Das Geld floß komplett in den Rechtshilfefonds. Heute, über zwei Jahrzehnte später, wissen wir es: Diese Prozeßkostenhilfe und auch die Hartnäckigkeit des Bauers Maas während des Prozeßverlaufes gaben vermutlich den Ausschlag, das Verfahren der Baugenehmigungen für die Industrie so unerträglich in die Länge zu ziehen. 1999 war der Ausstieg aus der Atomenergie Bestandteil des Regierungsprogramms.

Der „Schnelle Brüter“ ist in die Knie gegangen. Die Demo am 24. September 1977 mit ca. 50 000 Leuten war für die Lobby noch zu verkraften – das war ein Machtspiel. Aber die Auswirkungen unserer Lieder nicht, wie uns scheint. Es war eine Schallplatte mit elf Liedern von Saitenwind, Bruno & Klaus, Fiedel Michel, Tom Kannmacher, Frank Baier, Walter Moßmann, Kladderadatsch (Niederlande) und Schmetterlinge (Österreich) u. a. als Rechtshilfefonds der AKW-Bewegung.
Ein Lehrbeispiel für Solidarität und Demokratie.

Hände über Hönnepel

… Hände über Hönnepel – Hände über’m Land
Wessen Hände halten hier alles in der Hand
Deine Hände sind es nicht, die sind von Arbeit rauh
Die halten hier die Zügel nicht
Das weißt du ganz genau
Wir weichen hier nicht mehr zurück
Sie wissen es nur zu gut
Bis unser eigenes Geschick
In eigenen Händen ruht …

(Auszug,
Text: H. Unger, Musik: Resetarits, Herrnstadt,
gesungen von der Gruppe Schmetterlinge, Wien48)

Im Stahlstreik von 1978–79 zeigte sich im Ruhrgebiet eine übergreifende Zusammenarbeit der Liedermacher, die „Vernetzung der Regionalisten“. „Nie wurde bisher so lange im Ruhrgebiet gestreikt, nie waren die Fronten so verhärtet, nie war es bei einem Arbeitskampf so kalt draußen und die Gemüter so erhitzt“, so sagten uns die“alten“ Stahlstreiker und Streikposten an der Kokstonne vor dem Werkstor der Thyssen-Hütte in Duisburg-Meiderich. Einige hatten sogar noch den Stahlstreik 1928 – also 50 Jahre davor – miterlebt.49

Damals zählte man 20 000 Ausgesperrte. Am 1. Dezember 1978 waren es 30 000 Ausgesperrte und ca. 38 000 Streikende in den Betrieben. Es sah alles nicht gut aus, es konnte nur noch Verlierer geben. Aber nie wurde so viel gesungen im Ruhrgebiet wie während des sechswöchigen Stahlstreiks (vom 28. November 1978 bis zum 11. Januar 1979). Und neben der Solidarität der Metaller erstaunte uns ein weiteres Phänomen: die Vernetzung der „regionalen“ Künstler aus dem In- und Ausland funktionierte. Im Zentrum standen Liedermacher und Musiker aus dem Pott, Fasia, Kuro, die „Stahlkocher“ aus Dortmund, die Duisburger Songgruppe Krempeltiere und viele andere. Ein „Streik-Hit“ kam von den Krempeltieren. Sie sangen: „Mit 35 Stunden geht’s voran“ auf die Melodie „Von den Blauen Bergen kommen wir“. Die Textblätter wurden verteilt, und sofort konnten die „Brecher und Schränke vom Hochofen“ mitsingen:

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Stahlstreik1978/79 in Duisburg. Foto: Werner Hewig.

Mit 35 Stunden geht’s voran

Wenn wir schuften Tag für Tag in der Fabrik
Brechen sich viele von uns für euch das Genick
Ja, ein Menschenschicksal zählt bei euch nicht mit
Eure Sorgen gelten nur eurem Profit
Nun schon wieder sagt ihr uns: Ihr zahlt allein
Da sagen wir zur Arbeitsplatzvernichtung : nein …

Recht auf Arbeit für die Frau und für den Mann
Schluß mit Arbeitslosigkeit – mit Entschlossenheit
Packen wir die 35 Stunden an!

(Text: Krempeltiere, Duisburg;50 Musik: „Von den Blauen Bergen“)

Rheinpreußen ruft Alarm:
Hungerstreik vor dem Duisburger Rathaus am 5. Februar 1979 für den Erhalt der Rheinpreußensiedlung: die Gruppe Teewurzelloewe mit Frank Baier,
unter dem mittleren Plakat Ernst Born aus Basel (Gitarre),
Fasia (Akkordeon) und Walter Kurowski (Baß).
Foto: Werner Hewig.

Wir bekamen Verstärkung. Die Schmetterlinge aus Wien waren zur Zeit auf einer Tournee und machten spontan während einer „Konferenz der Vertrauensleute“ ein Solidaritätskonzert bei Mannesmann in Hüttenheim. Und Hannes Wader sang bei einer Betriebsversammlung der
Hoesch-Leute.

Aber: Morgens beim Schichtwechsel um fünf Uhr war es nicht selbstverständlich, daß ein Wolf, nämlich Wolf Biermann, bei minus fünf Grad mit aufstand und nach vorne zum „Thyssen-Tor 1“ ging. Das ist schon eine Nummer für sich, wenn dir vorne die Finger am Griffbrett der Gitarre festfrieren und hinten die Jacke anfängt zu qualmen, weil du versuchst, bei den Temperaturen so nah wie möglich mit dem Rücken an der glühendheißen Kokstonne zu stehen und du zu spät merkst, daß dir schon der Hintern brennt. Biermann machte u. a. ein Solidaritätskonzert gemeinsam mit den Krempeltieren für die Thyssen-Leute. Aber der wirkliche
„Hit“ des Stahlstreiks 1978/79, von allen und immer wieder mit neuen und abgewandelten Strophen gesungen, war „Keiner schiebt uns weg“:

Keiner schiebt uns weg!

Keiner, keiner schiebt uns weg
Keiner, keiner schiebt uns weg –
So wie ein Baum beständig steht am Wasser
Keiner schiebt uns weg.

… der Kompromiß ist ein Beschiß
Keiner schiebt uns weg
Auch wenn er vom Minister ist
Keiner schiebt uns weg
So wie ein Baum …

(Auszug,
Musik: trad. “We shall not be moved”51 (USA), Text: von allen, spontan )

Ein Lied, überliefert und aus dem Streik heraus wiedergeboren auf der Straße, vor den Werktoren vom Volk gesungen. Dieses Lied gehört allen: ein Volkslied.

Kurz nach dem Ende des Stahlstreiks wurden erneut Liedermacher auf den Plan gerufen. „Rheinpreußen ruft Alarm“ hieß die Aktion, die sich mit einem Hungerstreik von Bewohnern der Rheinpreußen-Siedlung vor dem Duisburger Rathaus im Februar 1979 verband. Es war bereits der dritte und diesmal unbefristete Hungerstreik auf den Rathaustreppen. Der Abriß der Siedlung konnte bereits gestoppt werden. Aber jetzt ging es um den langfristigen Erhalt und die sofortige Beendigung der laufenden „Privatisierung“. Die Hungerstreikenden wußten nicht, ob gerade zu Hause ihre Wohnung von der BHF-Bank im letzten Augenblick an einen neuen Eigentümer verkauft wurde. Die Konsequenz hieß: Vertreibung der alten Mieter aus ihren Zechenhäusern. Der Druck, der auf allen lastete, war groß, auch der auf der Stadtverwaltung und den Parteien. Die Situation war angespannt. Das Durchschnittsalter der streikenden Bewohner war ca. sechzig Jahre. Es standen Leben und Gesundheit der meisten auf dem Spiel. Auf der anderen Seite ging es um Millionen, die die Stadt Duisburg, sozial gebeutelt und krisengeschüttelt, schlichtweg nicht hatte.

Während des Hungerstreiks gab es für die „Bürgerinitiative RheinpreußenSiedlung“ nur eine Chance: Öffentlichkeit herstellen. Und das geschah. Vor dem Rathaus. Sie sangen, ob die Kameras surrten, die Funk-Mikrofone auf Sendung waren – oder ob es einfach nur naßkalt den Hungernden auf ihren Liegen von unten durch die Decken kroch. Die Rathaustreppen wurden zum regionalen Treffpunkt – Tag und Nacht – und zur Kulturbühne.

Zu einem Solidaritätskonzert am 12. Februar 1979 kamen fast 300 Menschen aus Duisburg und aus dem Ruhrgebiet. Stahlstreiker brachten eine ihrer Streik-Kokstonnen und kippten eine Tonne neben die Rathaustreppe. Fasia hatte ihr Akkordeon mitgebracht, Kuro den dicken Baß, Teewurzelloewe und die Krempeltiere waren musikalisch fast komplett ausgerüstet. Es gab fünf bis sechs spielfähige Gitarren. Es kamen Pott-Jazzer, und der Schweizer Liedermacher Ernst Born aus Basel sang Brecht-Lieder. Dann wurde ein Lied geboren: Richard Limpert aus Gelsenkirchen, Maschinist und Arbeiterdichter, brachte sein brandneues „Gedicht“ mit: „Rheinpreußen ruft Alarm“. Er mahnte lautstark zur Ruhe und las den Text vor. Fasia sang bereits heimlich mit. Fasia sang immer, auch wenn es nicht zu hören war. Ein Lied, von Fasia oft beim Ostermarsch gesungen, paßte auf das Versmaß von Richards Zeilen. Das Lied kannten wir fast alle! Und es erklang aus dem Stand mit mindestens zehn SängerInnen und fünf Gitarren – live – vor den hungerstreikenden Frauen und Männern:

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Foto: Werner Hewig.

Solidaritätskonzert am 12. Februar 1979

Rheinpreußen ruft: Alarm

… Ich lieg auf meiner Liege
Rheinpreußen ruft: Alarm
Das Fell von einer Ziege
Hält mir die Nieren warm
Ein Flugblatt läßt mich wissen
Der Siedlung droht Gefahr
Der Mieter wird beschissen
Wie es schon öfter war

Die Menschen, die dort wohnen
Die setzen sich zur Wehr
Noch mehr Profit für Drohnen
Die scheffeln immer mehr
Die Hunger-Streiker frieren
Für Wohnrecht und Erhalt
Auch Frauen demonstrieren 52
Am Rathaus ist es kalt

Ich muss zur Rathauspforte
Noch ist es nicht zu spät
Was nützen große Worte
Von Solidarität
Mit einem warmen Hintern
Bei fünfundzwanzig Grad
Am Ofen überwintern –
Ist Arbeiterverrat

Gemeinsam wolln wir zeigen
Wir stehen Frau und Mann
Hier darf kein Bürger schweigen
Das geht uns alle an …
(Auszug,
Text: Richard Limpert, Musik: Hannes Stütz, “Ein Bomben ist gefallen”, Arr.: Frank Baier, Fasia53)

 

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Als die Mieter frech geworden …
Lieder aus der Rheinpreußensiedlung – EP und Begleitheft von 1985

 

Den Hungerstreik beendete nach 18 Tagen die erlösende Nachricht: Die Stadt Duisburg kauft die Siedlung, die Häuser sind gerettet! Sofortiger Stop der weiteren Privatisierung. Später erhielten die Bewohner einen Pachtvertrag der Stadt für 99 Jahre. 1984 wurde eine Genossenschaft gegründet, die Bewohner konnten als Mieter wohnen bleiben.54

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Hungerstreik – Winter 1979
Fasia spielt auf den Rathaustreppen
für die streikenden Frauen

 

Ähnlich wie im Falle des Bauer Maas galt es, Hausbesetzern im Ruhrgebiet bei Gerichtsverfahren beizustehen. In erster Linie ging es um die Prozeßkosten. Hierbei entstand das Motto
„Schöner Wohnen – Abber fix !“. Mit dem Slogan
„Lieder, Reggae, Rock und Dampf – Kohle für den Häuserkampf“ der Besetzerräte aus Bochum, Dortmund, Essen, Gelsenkirchen, der sich u. a. an die Mieterinitiativen Ruhr und die Musikerszene im Ruhrgebiet, an Gruppen, Combos und Liedermacher richtete, kamen zwei Konzerte im Oktober 1981 zustande. Es waren Konzerte mit Ape, Beck & Brinkmann, Werner Worschech & Guy Bitan, MEK Bochum, Frank Baier, Geier Sturzflug, Cochise und Salinos. Der Erlös war für den Rechtshilfefonds der Hausbesetzer im Ruhrgebiet bestimmt. Ein Mitschnitt wurde als LP-Sampler veröffentlicht. Die Konzerte fanden in Bochum am 28. Oktober 1981 in der besetzten Mensa der Uni und in Mülheim am 29. Oktober 1981 in der Stadthalle statt; eigentlich war die besetzte „Malz-Fabrik“ vorgesehen gewesen. Die Organisatoren hatten eine klare Vorgabe: Alles! Der gesamte Erlös aus den Konzerten und Platten wurde in den Rechtshilfe-Fonds “gefletscht”!

Das Haus

Das Haus ist zugemauert
Das Haus stand lange leer
Es hat bis heut’ gedauert
Wir stell’n es wieder her
Wir stell’n es wieder her …

Wir stehen auf der Treppe
Da bricht die Haustür auf
Sie bilden eine Kette
Und stürmen in das Haus
Helmvisier geschlossen
Den Knüppel in der Faust
Wir liegen auf dem Boden
Und halten’s kaum noch aus …

(Auszug,
Text: Fred Ape, Musik: Ape, Budde, gesungen von Ape, Beck & Brinkmann, Dortmund55)

Das Prinzip war bekannt, die Gangart auch: Die Prozeßwelle, die auf die festgenommenen Hausbesetzer zukam, sollte den Spuk der Besetzungen im Ruhrgebiet endgültig beenden, und die Prozeßkosten sollten sich verheerend auf die Moral der Szene auswirken. Die Szene reagierte: „mit uns nicht! Die angeklagten Hausbesetzer sollen durch die hochgetriebenen Prozeßkosten existentiell bedroht und kleingefahren werden. Wir machen Dampf!“ Diesmal ging es um runde 200 000 Mark. Wie bei Bauer Maas steckte das pass op-Label in Moers dahinter. Es legte einen Tonmitschnitt der beiden Konzerte als eine LP vor. Nicht eine einzige Mark an Gage ging ab, sondern alle Einnahmen floßen dem Selbsthilfefonds für die Prozeßverteidigung zu.

Die besetzte Mensa der Universität Bochum war in einem desolaten Zustand: kein Strom, keine Heizung, die Fenster eingeschlagen – katastrophal. Der letzte große „Ratschlag“ mit allen Organisatoren, mit den Besetzerräten und Musikern zeigte aber: Wir sind fit, auch fachlich. Die Fenster wurden zugenagelt. Wir besorgten uns eine fahrbare Netz-Ersatzanlage (NEA, 22 KW-Generator), von eigenen ElektroFachleuten und Ingenieuren geplant und betrieben. Beim Konzert brannte das Licht, liefen die PA-Anlage und die Tonbandmaschinen. Der Saal kochte. 2500 Leute und die Musiker „on stage“ heizten genug ein. Texte und Lieder waren klar und deutlich, und die Sprache „pot“ und dreckig. Die NEA tuckerte draußen – gut bewacht – vor sich hin. Die Menge feierte Geier Sturzflug mit dem „Star vom Polizeifunk“ und „Hard Rock Café“. Es war Musik „Ruhrpott“ pur, sie kam aus dem Bauch, war weder zu „kaufen“ noch kommerziell zu vermarkten. Nachts fuhren Leute mit Kanistern zur Tankstelle, weil das Ende des Spektakels noch längst nicht in Sicht war und der Dieselmangel der NEA unseren schönen Mitschnitt für die LP bedrohte. Cochise sang „Jetzt oder nie!“ und traf genau den Nerv. Alle sangen mit, weil fast jeder die Texte der Szenecombo kannte:

Jetzt oder nie, Anarchie!

Wir wollen keine Bullen
Die uns prügeln
Wir wollen keine Gesetze
Die uns zügeln
Wir brauchen keine Städte
In denen wir ersticken
Wir wollen keine Bürger
Die reichen, fiesen, dicken …
Jetzt oder nie, Anarchie!

(Auszug,
Text und Musik: Pit Budde, gesungen von Cochise, Dortmund56)

Erschreckend klar war auch, daß fast alle Texte, auf der Bühne in dieser Nacht gesungen, von der Gewalt durch den Staatsapparat handelten: „Das Haus“, „Der Schlag“ von ABB, „Macht macht Angst“ von Frank Baier, 57 sogar „Keine Bewegung“ von Salinos und „Lied von der Auguststraße“ von Werner Worschech.58 Die „gelbe Platte“ mit der Riesen-Fletsche wurde ein „Knaller“. Das Geld floß reichlich aus der gesamten Szene des Ruhrgebiets, und die Prozesse wurden halbwegs abgefedert. So soll es sein: Leben – Kämpfen – Solidarisieren – im Ruhrgebiet, „aber mit Späßken“, bitte …

Inhalt

  1. Leben Kämpfen Solidarisieren
  2. Unser Marsch ist eine gute Sache
    Von den Ostermärschen Mitte der 60er Jahre
  3. Die Waldeckfestivals 1964-69
    Wurzeln und Kinderstuben der Lieder in NRW
  4. Aufbruchstimmung 70er Jahre
  5. Musikszene im Pott - Lieder der 80er Jahre
  6. Kommt ausse Pötte - die 90er Jahre
  7. Nachgesang

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