Wurzeln und Kinderstuben der Lieder in NRW

Burg Waldeck -Festivals 1964–69

Die Festivals auf der Burg Waldeck – mittlerweile legendär – stehen für die Wurzeln der Geschichte der Lied-Bewegung unserer Republik. Die Burg Waldeck, im Hunsrück oberhalb des Baybachtals gelegen, ist eine der wichtigsten Kinderstuben der demokratischen und politischen Liedkultur, auch für das Ruhrgebiet.

Von diesem Gelände mit seinen Hütten und dem Säulenhaus sowie von den Sängern, die von der Jugendbewegung, dem Rechts-Links-Gefälle der Bündischen Jugend und der Tradition des Wandervogels geprägt waren, gingen die Impulse und Anstöße aus, die ganze Generationen von Liedermachern und später sogar Rocksänger beeinflußt haben. Genau an diesem Widerspruch von muffigem Nationalismus und antibürgerlicher Revolte auf der Burg Waldeck sind wir gewachsen. Er schärfte unsere Wahrnehmung, aber auch unsere Lust am Singen. Er ließ uns eine verschüttete demokratische Liedtradition wiederentdecken.

Und wegen dieses Widerspruchs entstanden die selbstgeschriebenen Lieder der Bewegungen in der siebziger und achtziger Jahren. Urheber und Mitbegründer der Festivals waren u. a. Peter Rohland, die Zwillingsbrüder Hein und Oss Kröher sowie “Gockel”. Damit erwuchsen sie direkt aus der Bündischen Bewegung und derem fortschrittlich, demokratisch orientierten Flügel heraus. Ursprüngliche Bausteine für die Organisation der Festivals waren die demokratische Liedkultur des eigenen Landes und eine Orientierung an den Liedbewegungen im Ausland, u.a. in Frankreich und in den USA.

Alle Festivals waren Sternstunden. Daß sich das Volkslied zum Folksong entwickelte, hatte sicherlich mit der großen Präsenz der Folksänger aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zu tun: Phil Ochs, Hedy West, Odetta, Guy Carawan u. a. Wir lernten von ihnen, wie in der “Civil Rights Movement”, einer singenden Bewegung, spontan Aktionslieder bei Demonstrationen entstanden. Diese Lieder wurden geboren, nicht gemacht. Wenig später wußte niemand mehr so richtig, von wem welches Lied und welche Verse stammten.
Sie wurden Volkseigentum.

1964 – „Festival Chanson Folklore International“
hieß das erste Waldeck-Treffen mit seinen 16 Chanson und Liedersängern.

1966 – Die Waldeck besuchten bereits 2000 Zuhörer und 70 Interpreten. Nahezu die komplette Elite der damaligen Chansonsänger und Liedermacher war auf der Bühne vertreten, die erste Generation sozusagen: Franz-Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp, Hanns Dieter Hüsch, Walter Moßmann, Hannes Wader. Plötzlich tauchte Joan Baez – aus den USA für eine Ostermarsch-Tournee gekommen – auf und sang gemeinsam mit Fasia „We shall overcome“.

Walter Westrupp und Bernd Witthüser 1967 auf Burg Waldeck. Foto: Frank Baier.

1967 – Das Festival „Engagiertes Lied“ bot etwa hundert Liedermacher bzw. Interpreten, u. a. Reinhard Mey sowie Wader, Degenhardt, Süverkrüp, Hüsch, Christopher & Michael und Hedy West, USA. Es hatte 2500 Zuhörer und erfuhr eine unerwartete Politisierung, vor allem durch Störmanöver von rechts durch den “Nerother Wandervogel”. Autoreifen und Kabel wurden zerschnitten, Zufahrtswege versperrt und Leitungen für Rundfunk und Fernsehen beschädigt.11

1968 – Das Festival “Politisches Lied” stand unter dem Motto „Politisch’ Lied ein garstig’ Lied“ und verstärkte die politischen Ansätze. Prozesse der Selbstfindung fanden statt. Aus den USA kamen Phil Ochs, Odetta, Guy Carawan. Aus der Bundesrepublik: Floh de Cologne, Insterburg & Co, Schobert & Black, Rolf Schwendter, Uli & Frederik, Fasia Jansen & 4 Conrads, Degenhardt, Wader, Kittner u. a.

3000 Besucher kamen. Diesmal gab es linke Störmanöver und Aktionen, eine Demontage durch die APO und deren Basisgruppe Waldeck. Forderungen wurden laut: „Stellt die Gitarren in die Ecke und diskutiert!“ Kuhfladen flogen in Plastikbeuteln auf die Bühne. Hanns Dieter Hüsch, der vermitteln wollte, wurde ausgepfiffen. (Vgl. auch den Beitrag von Robert v. Zahn in diesem Band.) Hüsch zog die Konsequenz und stieg für ein Jahr aus. Sänger traten in den Singstreik, u. a. Reinhard Mey, der sich ganz von der Waldeck zurückzog. Zentrale Figur war Rolf Schwendter. Er erklärte uns seine ““Theorie der Subkultur“. Sie führte zu Chaos und heftigen Attacken.

1969 – Das Arbeitstreffen „Gegenkultur“ statt eines Lieder-Festivals wurde vom „Republikanischen Club“ und der ABW (Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck) organisiert. 5000 Besucher kamen, die Waldeck platzte aus allen Nähten. Über 400 oppositionelle und subkulturelle Gruppen waren eingeladen. Gesungen wurde fast kaum noch, statt dessen gab es Referate und Grundsatzdiskussionen über die Pariser Studentenunruhen, über Berlin und über Vietnam mit dem Resultat: „Wir müssen in die Städte gehen! Schafft ein, zwei, viele Waldecks, bei euch zu Hause!“
Ein Ende mit Schrecken? Jedenfalls ein vorläufiges Ende der Waldeck-Festivals.

Wir gingen in die Städte, in die Betriebe, in die Behörden.12 Das war der Beginn der Festivals in Tübingen, in Mainz mit „Open Ohr“, in Ingelheim, Nürnberg, Osnabrück und anderswo, später im Ruhrgebiet, so auch „Kleiner Mann, was tun?!“ in Duisburg 1979.13 Internationale Essener Songtage, 25.–29. September 1968: „Lieder machen keine Revolutionen – aber Revolutionen haben immer Lieder gemacht!“14

Vor den Essener Songtagen war Ausschlaggebendes in der Bundesrepublik und in Westberlin passiert, was auf die Entwicklung des „neuen deutschen Liedes“ auch in NRW nicht ohne Einfluß blieb. Bevor ich also die Türe einer weiteren Kinderstube unserer Lieder in NRW einen Spalt öffne, ein Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe: Wo sind da in den Kinderstuben die Bauklötzchen – sprich Pflastersteine – geflogen, wo hat ein Haus gebrannt, wo wurden Dachlatten zu Waffen?

Stärker und lautstärker als je die Ostermarschbewegung trat die „Außerparlamentarische Opposition“ auf, die APO, eine vor allem von Studenten und Schülern getragene Protestbewegung gegen autoritäre Strukturen, gegen die Notstandsgesetze und gegen den Vietnamkrieg. Den Kern der APO bildete der „Sozialistische Deutsche Studentenbund“, der SDS, deren führender Kopf Rudi Dutschke am Gründonnerstag 1968 von dem Westberliner Josef Bachmann angeschossen und schwer verletzt wurde. Es folgte eine Demonstration vor dem Springer-Verlagshaus. Auslieferungsfahrzeuge brannten.

Ein Jahr zuvor – am 2. Juni 1967 – war Benno Ohnesorg bei einer Anti-Schah-Demonstration von einem Polizisten im Handgemenge von hinten erschossen worden. Mittags hatten „Jubelperser“ mit Dachlatten auf die Demonstranten eingeprügelt, während die Polizei teilnahmslos zuschaute.15 So etwas bleibt hängen. Stefan Aust brachte es auf den Punkt: „Der 2. Juni 1967 wurde zum historischen Datum, zum Wendepunkt im Denken und Fühlen vieler, nicht nur der Studenten.“16 Nicht ohne Wirkung blieben auch die Mai-Unruhen 1968 in Paris: Sie schlugen wie ein Blitz auch auf der Waldeck ein, prägten uns und unsere Lieder.

Vor diesem Hintergrund wurden die Songtage 1968 in Essen von Leuten wie Martin Degenhardt (Bruder von Franz J.), Henryk M. Broder, Tom Schroeder, Reinhardt Hippen (Kabarett Archiv, Mainz) und Bernd Witthüser, Essen, initiiert und geplant. Auf den Bühnen belebten sie Gruppen wie Mothers of Invention mit Frank Zappa, aber auch The Fugs, die aus den USA eingeflogen wurden. David Peel kam mit härtestem Agit-Pop. Ihnen zur Seite standen Tim Buckley, Julie Driscoll, Brian Auger, The Family mit Roger Chapman und viele mehr. Das war, unabhängig von dem vielen Gras, das in der Gruga-Halle qualmte, schon ein „starker Tobak“, der mit einer unglaublichen musikalischen und politischen Wucht fünf Tage lang von der Bühne „donnerte“.

Er konnte nicht ohne Wirkung auf unsere Musik und unsere noch nicht geborenen Lieder bleiben, riß uns aus den alten Mustern und Bequemlichkeiten heraus. Hier wurden keine Illusionen mehr erzeugt. Vielmehr wurde das Lied zum Träger politischer bzw. gesellschaftlicher Informationen. Es sollte Botschaften transportieren, wie die Fugs sagten, von sexueller Frustration, von genereller Kritik an der Gesellschaft und vom Vietnamkrieg. Frank Zappa steigerte das noch mit seinen genialen bis bösartigen Kommentaren und Untergrund-Oratorien, die bis dato so noch nie gesungen oder in Noten gesetzt wurden.

Eiserne Lerche - April 1979 - politisches Lied in der BRD
Leben Kämpfen Solidarisieren

Auch bei den heimischen Sängern grassierte die Bissigkeit: Dieter Süverkrüp sang scharfzüngig seinen Zyklus „Vietnam“. Hanns Dieter Hüsch mußte mehrere Male über die Hallenlautsprecher ausgerufen werden, bis er sich bei der verbalen und musikalischen Aggressivität und dem Tohuwabohu überhaupt auf die Bühne wagte.

Antworten der Medien auf die Songtage: „Das war Sauerei in einem Schweinestall“,17 „Sodom und Gomorrha im roten Essen. Internationale Songtage wurden zur Massenorgie“18 und „Irre Orgie. Kleister, Sex und Hitler-Reden bei den Essener Song-Tagen“.19 Die Mothers of Invention und die Fugs, die in den USA mit ihren Attacken auf die sexuellen und gesellschaftlichen Tabus bei den Rundfunk- und Fernsehanstalten bereits auf dem Index20 standen, wurden mit ihren gesellschaftskritischen Texten auch in der Bundesrepublik nur vereinzelt wahrgenommen.

Ähnliches galt für Walter Moßmanns oder Süverkrüps Lieder, ob über die „48er Revolution“ oder „Vietnam“. Die anarchischen Zustände in den Veranstaltungsstätten galten als Beleg für „die kranke Jugend“21 und wurden als Ausdruck „einer aggressiven Minderheit auf der Flucht in gellende Beat-Orgien“22 hingenommen. „Der Protest schickt seine Jünger auf die falsche Fährte. Die Essener Song-Tage wurden ein Fest der Pornografie“23 lauteten die noch sachlicheren Kommentare. Journalisten schrieben, was sie sehen und hören wollen. Die Gruga-Halle war ein Riesen-Joint für sie. Bei den Presse-Konferenzen sollten Veranstalter und die Stadt Essen dafür zur Verantwortung gezogen werden, für ein so unwürdiges Spektakel noch Geld zum Fenster rausgeschmissen zu haben. „300.000 DM Kredit für Irrsinn und Obszönität“.24 In der Lokalpresse spiegelte sich die Veranstaltung als blanker Horror, importierte Revolution, Underground, Aufruhr und Protest. Selbst der „entzückende“ wie zeitgemäße Beitrag von Bernd Witthüser in der Pädagogischen Hochschule (PH) konnte ihnen kein Lächeln abringen:

Das kleine Lied des kleinen deutschen Revolutionärs
Dem Opa hacke ich das Holzbein an
Damit der Alte nicht mehr laufen kann
Dann steck’ ich dem Opa das Holzbein in Brand
Dann haben wir wieder ein Feuer mehr im Land

Der Oma nehme ich die Brille weg
Dann schmier ich ihr auf die Gläser Dreck
Dann sagt die Oma: “Danke mein Kind
Ich bin ja sowieso schon fast blind!”

Der Schwester reiße ich die Puppe entzwei
Aus einem Holzpferd mache ich drei
Dann pinkel ich von unserm Balkon
„Hurra, es lebe die Revolution!“

(Text: Thomas Rother, Essen, Musik: Bernd Witthüser25)

Schon die Programmankündigungen waren Provokationen: Mit „Ein deutscher Liederabend“ und „Guten Abend, gute Nacht“ fing Mittwoch (25. September) alles ganz harmlos an. Aber am Donnerstag gab es das Protestkonzert mit Die 4 Conrads, Bernd Witthüser und Texten von Erich Fried „Seht euch diese Typen an“, dazu „Deutschland erwacht“ mit Popmusik von Amon Düül bis Guru Guru und Jazz mit Peter Brötzmann abends im Saalbau. „Protest International“ bot Alexis Korner, Degenhardt, David Peel, Black Power Songs, Süverkrüp, Julie Driscoll u. a. auf. Am Freitagmorgen stritten Podiumsdiskussionen über „Integration“ u. a. mit Tuli Kupferberg von den Fugs und Frank Zappa. Abends erlebte man „Loppe, loppe,

die 4 Conrads - Waldeck-Konzert - Jupp

Die Conrads. Foto: unb.

Labarett: Linkisch Lied für Lust und Lümmel“
mit Floh de Cologne, Insterburg & Co und Rolf Schwendter aus Österreich.

Samstag (28. September): Schon morgens wurde über „Agitation“ referiert und diskutiert, natürlich mit Degenhardt, Fried, Süverkrüp und Schwendter, der mit seiner „Theorie der Subkultur“ die Gesellschaft gegen den Strich bürstete.26 Mittags hießes „Famos, famos, heut machen wir ein richtig duftes Fest“. Es war eine Folk- und Pop-Show und diente eigentlich zur Beruhigung der Gemüter. Abends führte ““Let’s take a trip to Asnidi“ zum letzten Himmel Grugahalle. Diese tage und nächtelangen Mammutkonzerte kosteten sechs Mark Eintritt und boten schon mittags erste Höhepunkte mit Zappa und Tim Buckley, als Nachbrenner hingegen The Fugs und die Stimm-Entdeckung des Jahres, The Family aus England mit ihrem Wahnsinns Leadsänger Roger Chapman.

Sonntag wurde das „2. famose dufte Fest“ mit Alexis Korner, The Family, Cuby and the Blizzards, David Peel, Schnuckenack Reinhardt u. a. gefeiert. Der Ausklang „Internationaler Essener Sonn-Tag“, im Saalbau von Hanns Dieter Hüsch präsentiert, leitete mit Rick Abao, Uli & Frederik, Hannes Wader und Bernd Witthüser in ruhigere Gewässer.

Denk-, Zünd- und Sprengstoff gab es genug. Das zu verdauen sollte Monate dauern, und es hat eine ganze Generation von Künstlern und Sängern, Songpoeten, Liedermachern und Musikern, Rocksängern und Kabarettisten geprägt.

Franz Josef Degenhardts späterer Kommentar zu „Die Wallfahrt zum Big Zeppelin“ fiel böse aus: „andere sind wieder mal mit Pop und Pot auf dem falschen Trip, ähnlich wie ihre Ahnen, die Wandervögel“. In seinem Liedtext heißt es weiter: „Big Zeppelin hing an zwei schwarzen Sonnen. Und aus Verstärkern dröhnt im Bauch die Litanei der Wonnen. Und Wolken aus Afghanistan und stampfende Gitarren und Schreie nach Befriedigung.“ 27

Nicht nur ein „politisch Lied – ein garstig, widerborstig Lied“ gab es, sondern manchmal auch ein ermutigendes: Wolf Biermann sang 1968 seine „Ermutigung“ und steuerte das Lied der Sonderausgabe des Essener „Song“, Nr. 8, bei:

Ermutigung

Du, laß dich nicht verhärten
In dieser harten Zeit
Die allzu hart sind, brechen
Die allzu spitz sind
Stechen und brechen ab sogleich …
Wir woll’n es nicht verschweigen
In dieser Schweigezeit.
Das Grün bricht aus den Zweigen …
(Auszug, Text und Musik: Wolf Biermann)

Wir waren unterwegs. Einige betrieben vor allem Straßenmusik – Bernd Witthüser, Stefan Stoppok, Pit Budde u. a. Neue Gruppen und Liedermacher begannen zu laufen, häufig geprägt durch Festivals auf der Burg Waldeck (Witthüser & Westrupp, Bursch, Baier u. a.). Einer der ersten, Peter Bursch aus Duisburg, traf vorher auf der Burg Waldeck auf Fasia Jansen, spielte 1966 zusammen mit Fasia und Joan Baez „We shall overcome“ auf der Ostermarsch-Bühne. Seit 1968 tourte er dann mit der Band Bröselmaschine.

Wir lernten die Wurzeln unserer Lieder kennen, der demokratischen Lieder, und lernten von den Liedern der Bewegungen in den anderen Ländern. Wir sogen die Songtage 1968 in Essen und die Musikeinflüsse der Gruppen und Songwriter aus den USA auf. Wir lasen Eldridge Cleaver und „Do it“ von Jerry Rubin: „Mach’ es, wag’ es, geh’ raus, sing’!“ Aus diesem Stoff schrieben wir neue Lieder und neue Programme. Die Ostermärsche liefen Jahr für Jahr durch das Ruhrgebiet und anderswo. Dort hörten wir die neuen Lieder und Sänger unserer Region auf den Abschlußveranstaltungen.

Inhalt

  1. Leben Kämpfen Solidarisieren
  2. Unser Marsch ist eine gute Sache
    Von den Ostermärschen Mitte der 60er Jahre
  3. Die Waldeckfestivals 1964-69
    Wurzeln und Kinderstuben der Lieder in NRW
  4. Aufbruchstimmung 70er Jahre
  5. Musikszene im Pott - Lieder der 80er Jahre
  6. Kommt ausse Pötte - die 90er Jahre
  7. Nachgesang

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