5. Die neunziger Jahre: Kommt ausse Pötte

5. Die neunziger Jahre: Kommt ausse Pötte oder Wie alles weitergeht …

Ärger

Ärger, du kannst mich nicht anschmieren
Ich weiß, daß du schon hinter der nächsten Ecke stehst
Ärger, du kannst mich nicht anschmieren
Ich weiß, daß du dir schon wieder Übles überlegst …

was soll ich euch sagen, ich weiß, ihr ahnt es auch
Es ist bis heute nichts passiert,
Für mich der reinste Schlauch
Ich bin völlig in Panik und ich muß mich fragen
Wie lang kann mein Körper diesen Streß ertragen
Manchmal schrei ich „Mensch Ärger, komm raus“
Danach ist es dann wieder ganz still
Und dann summ ich ganz leise vor mich hin:
Ärger, du kannst mich nicht anschmieren …

(Auszug; Text und Musik: Stefan Stoppok64)

Die Ära Kohl machte nur noch Frostbeulen, und kulturell froren uns langsam die Glieder ab. Menschliches und gesellschaftliches „Gefriertrocknen” rundrum. In Folge wird politisch eine Umgehensweise mit Ausländern und Asylanten in Kauf genommen oder sogar toleriert und von uns eine wachsende Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz fassungslos mit angesehen. Die Musikerszene reagiert! Am 9. November 1992 starten zuerst Nick Nikitakis, Wolfgang Niedecken, Axel Büchel und weitere Kölner Musiker mit dem Konzert „Arsch huh – Zäng ussenander!“ auf dem Chlodwigplatz gegen Rassismus und Neonazis. „Wir müssen endlich aufhören, Angst zu haben. Denn wenn wir unsere Angst verlieren, hört auch das Schweigen auf.“ Der Satz von Rolf Lammers von LSE65 bringt es auf den Punkt. Genau das ist es. Schon Anfang der siebziger Jahre haben Ton Steine Scherben gesungen „… wir haben nichts zu verlieren, außer unserer Angst!“66

Genau einen Monat später, am 9. Dezember 1992 kommen die Essener „ausse Pötte“. Eine *Sternstunde, das Konzert auf dem Webermarkt mit Stormy Monday Band, Bam B.’s Revenge, Los Bollos, bis Stefan Stoppok, Herbert Knebel (mit Affentheater), Theater Missfits, Günther Semmler, Camaleo und vielen andere.67 Im Dezember und draußen, geht das? Und wie das geht! Trotz der Kälte kommt Wärme auf! Unsere Lieder, unsere Musik im Kohlenpott, da gibt es Leute vor Ort, Musiker, Rocksänger, Kabaretts und Gruppen, die bringen „es“ rüber von der Rampe (und auch „backstage“). Da geht dir „dat Herzken auf“. Das ist Leben, und das geht nach vorne, in Richtung Zukunft. Die Szene in Essen kommt zusammen und sagt sich: „Oh ja, das Schlimmste ist nun mal, wenn braune Scheiße überkocht. Ich kann es nicht verstehn’, und ich will es nicht mehr sehn’ …“.68 Es geht um „Grundrechte bewahren, Rassismus bekämpfen, Flüchtlinge schützen“ im Ruhrgebiet und anderswo!

Sie sind alle da – die Szene westliches Ruhrgebiet ist fast komplett. Nicht nur „ohne Gage“, sondern „ohne Geld“ wurde das Konzert innerhalb von neun Tagen aus dem Boden gestampft, mit Bühne, Licht und Ton und kompletter Technik, alles professionell durchorganisiert und „ohne Kosten“. Selbst die Szenekneipen machten dicht, und das Personal zapfte „umsonst und draußen“. Ein Medienereignis: Radio NRW und der WDR beteiligten sich u. a. mit Live-Schaltungen und Sendebeiträgen zur Ausländerfeindlichkeit in Deutschland. Herbert Knebel mit Affentheater
(alias Uwe Lyko, früher “B 1”) zieht seine Ruhrpott-Nummer ab – mit der „Hilti“ und mit dem Kollegen „Mörtel“ aus dem Zyklus „Boh glaubse“69 , bis das Zwerchfell ausleiert. Da gehen die Lacher nicht auf Kosten der Schwächeren. Die Missfits sind auch da: Frauenkabarett aus dem Pott, hautnah dran am Leben und kein bißken zimperlich. Wenn die ihr „Wennze-meins-Lied“ in der Cover-Version von Cat Stevens’ „Father & Son“ singen, dann „waizze Bescheid, ährlich“:

Das Wennze-meins-Lied

Wennze meins, du hätt’s noch Zeit
Datte soviel Zeit vertun kanns
Bisse bekloppt, dat is nich wahr, du hasset eilig
Wennze tot bis, isset vorbei
Und vorm Sterben musse leben
Und dann musse au ma fragen, oppe happy … bis
Gehse als erste, hasse Pech
Bleibste übber, is et irgendwie besser
Aber jammer nich rum, geh doch raus, hau auffe Kacke
Oft braucht et Zeit, bis datte weiß Watte willst, und wie de hinkommst
Bisse dann da, isset klar Isset besser als wie et war

Nur wer vögelt, kann auch fliegen
Über Berge, über Täler
Über Falten, Bäuche und die Wechseljahre
Geh zum Lachen nich in Keller
und Wennze weinst, dann aber richtig
Lass ma locker, lass ma gehn, sei ma happy

Wennze weiß, watte wills Musse machen, datte hinkomms
Kommse zu spät, isset vorbei, hattat Leben dich bestraft
Oft braucht et Zeit, bis datte weiß
Watte wills und wie de hinkommst
Bisse dann da, isset klar, isset besser als wie et war

(Text: Missfits, Musik: Cat Stevens, „Father and Son“;
gesungen von Missfits, Oberhausen70)

Und dann kommt Stefan Stoppok. Sein Beitrag zum „Pötte“-Konzert „Denk da lieber nochmal drüber nach”,71 gemeinsam mit Danny Dziuk geschrieben, ist erst eine Stunde vorher fertig geworden – eine klare Absage an die Herrenrasse und die „Ratte des Jahrhunderts“ mit ihren jugendlichen Mitläufern und „baby skins“. Dann sitzt er da auf dem Stuhl, mit seiner E-Gitarre und Dziuk hinter ihm am Piano, und Stoppok singt, nein philosophiert laut vor sich hin, nölt herum, groovt los und erzählt dir mal eben, was dir noch fehlt.

Was dir noch fehlt

Du hast, was Du hast
Und Du hast noch was zu kriegen
Hast die Kids, hast die Katz hast den Wagen,
Du hast Platz
Die Flocken sitzen lose
Kriegst den Strom aus der Dose
Hast das Haus, hast den Garten
Deine Frau ist ein Schatz

Keine Schulden, Hypotheken, kein Kredit, der Dich quält
Und Du redest, und Du redest von dem, was Dir noch fehlt

Du hast den Trouble, hast den Streit, hast die Lust, hast die Last
Zum Babbeln hast Du Zeit
Und zwar dann, wenn’s Dir paßt
Was gespart, was gebaut Dich gepaart, Dich getraut
Was gewagt, was gewonnen
Und das hältst Du fest.
Kann kommen, was will, das gibst Du nicht mehr her
Und Du redest und redest, und Du willst immer mehr

Wir haben Gottes Segen und den sauren Regen
Wir ham das Böse und das Gute
Die dritte Welt unter der Knute
Nackt wie wir kamen, so haun wir wieder ab
Und wir reden, und jeder meint, er käm zu knapp

Wir ham die holländische Soße und den roten Libanesen
Wir ham die dänische Dogge und den türkischen Honig
Wir ham die spanische Wand und das französische Bett
Wir ham den indischen Seiltrick und den englischen Humor
Und das atlantische Tief im Wetterbericht
Nur die chinesische Weisheit, die ham wir leider nicht

(Text: B. Conrads, Musik: S. Stoppok, 72 gesungen von Stefan Stoppok)

Stefan hat noch Günni Semmler mitgebracht, den Rentner mit dem Akkordeon und seinem hinreißenden „Container-Song“. Camaleo mit Frontmann und Sänger „Bubi“ Scholz, der von der Essener Was tun-Band kommt, heizen mit einer „Abfahr-Musik“ die „Arena“ Webermarkt warm. Tom Mega liest aus „Der SS-Staat“ von Eugen Kogon einen Auszug aus „Arrest und Dunkelhaft im KZ Buchenwald“. Pia Maria und viele mehr, ein Mammut-Programm von mittags 16 Uhr bis tief in die Nacht, sauber anmoderiert von Friedrich Küppersbusch und Andreas Kunze.

Eine fast südländische Atmosphäre. Tausende von Leuten73 sitzen, stehen, singen mit und tanzen bis zum mitternächtlichen Finale – die ganze Bühne randvoll, alle drauf, mit dem Final-Song „Kommt ausse Pötte, es ist wieder soweit. Kommt ausse Pötte, wir sind über die Zeit … laßt die Faschos nicht ran. Kommt ausse Pötte, sonst sind wir alle arm dran …“. Eine *Sternstunde und ein Beispiel für Kälte überbrücken, näher zusammenrücken. Nicht nur rumstehen und warten, endlich etwas tun.

Also: in Bewegung bleiben. Sich Bewegungsfreiheit verschaffen und den anderen, den Schwächeren, gleich mit. Und das hat mit einem Selbstbewusstsein zu tun, mit einem Selbstverständnis als Musiker im Ruhrgebiet, Texte und Musik in einer Region und für die Menschen in der Region zu schreiben, Texte aus dem prallen Leben gegriffen und umgesetzt. Und das wirkt! Selbst wenn du von ganz unten kommst und sie dich auf der Straße als Ausländer, als „Kanaken“,74 erkennen und „allemachen“ wollen.

„Allein machen sie dich ein …“ haben auch die „Scherben“ in Berlin bei der „Rauchhaus“-Besetzung gesungen. Die Gruppe Kattong sang im Knast „Schenk’ mir deine Wut, ich kann sie gebrauchen …“. Als ich die Rap-Gruppe aus Witten mit ihrem Stück „Wut“ zum erstenmal hörte, da wußte ich, es geht weiter: „Ich fühle mich umringt, eingeengt und allein, ziemlich verlassen, gewöhnlich und klein. Komm, mach mich an, damit ich mich wehren kann. Komm, schrei, ja, laß die Wut raus. Komm, schrei …“75

Die Sons of Gastarbeita sind mein letztes Beispiel für „Lieder in Bewegung im Ruhrgebiet“.
Weil sie beispielhaft sind. Eine Anti-Rassismus-Band, mittlerweile Stars in der Rap-Musik-Szene, sie lassen hoffen. Abwehrend hebt Gandy Chahine, Frontmann und Texter der Gruppe, bei einem Interview76 mit einer regionalen Zeitung die Hände: „Komm mir nicht mit multi-kulti“. Das ist ihm zu platt. „Unsere Eltern kommen aus dem Libanon, von den Philippinen und aus der Türkei, und Moritz und Frederik sind urdeutsch, unsere Gastarbeiter … Aber Witten ist unsere Heimat. Wir gehören hier hin. Wir gehören nirgendwo anders hin! In uns steckt die deutsche Kultur von Kindesbeinen an.“

Mustafa, der Bassist, profitiert von seinen aufgeschlossenen Eltern und dem gleichberechtigten Nebeneinander der türkischen und deutschen Kultur und Sprache, mit der Basis Toleranz und Kommunikation als wichtigsten Instrumenten. Der Ruhrpott ist ihre Heimat. Hier entstehen ihre Texte, und hier bringen sie mit ihrer RapMusik auch Bewegung hinein. 1995 gründen sie mit anderen die Aktion „Rap für Courage“ und sind Schirmherren der Aktion „Schule ohne Rassismus“, für die auch das Lied „Wut“ geschrieben wurde.

Söhne der Gastarbeita

Die deutsche Wirtschaft begann zu expandieren
Und machte sich auf, ohne Zeit zu verlieren
Der Industrie die Kräfte zu besorgen
Für das Wirtschaftswunder von morgen
Man hatte seine Sorgen der Arbeitskräfte wegen
Der Wunsch nach mehr begann sich zu regen
Die deutschen Ärzte, eher ganz verwegen
Gaben den Gästen ihren Tauglichkeitssegen
Denn körperliche Arbeit war in Deutschland angesagt
Mann, jung und gesund, genau das war gefragt
Wer wagt, gewinnt, so lautet das Motto
Deine Reise nach Deutschland war ein Sechser im Lotto
In Wahrheit jedoch, man wußte es genauer
Die Deutschen waren schon immer etwas schlauer
War der Aufenthalt geplant von kurzer Dauer
Gesagt, getan, doch die Rechnung ging nicht auf
Und du fragst noch, wer wir sind?!
Wir sind die Söhne der Gastarbeita

Ich kommen nach Deutschland, viele Jahre her
Weil Leben in Heimat mir fallen schwer
Zuhause keine Arbeit, zuhause viel Not
Deutschland Paradies, mir geben Brot
Ich schwer Arbeit, schicken Geld zu Frau
Familie Geld brauchen, ich wissen genau
Kollegen nix freundlich, machen immer Streit:
Hau doch ab, Kanake, sonst mache ich dich breit!
Ich viel traurig, ich Deutsche nicht verstehen
Warum erst holen und jetzt sollen gehen?!
Das eine Geschichte von viele andere auch Paradies
Deutschland lösen auf in Rauch
Jetzt sind wird da, die Söhne der Gastarbeita!

Ich denke, allmählich gescheiter
Und ein Teil dieser Kultur pur
Sind wir nicht nur die Gäste im eigenen Land
Mit Verstand baut keiner auf Sand!
Wir leben hier soweit es geht
Wollen wir zurück? Ist doch viel zu spät!!!
Konkret gefragt: “Zurück wohin”
Mal ganz ehrlich, da fehlt mir der Sinn!
Ich bin, was ich bin
Ein Sohn dieser Region
Unabhängig von Tradition und Religion
In diesem Land gebildet, verkannt
Gemieden, anerkannt, das ist ja allerhand!
Mit dem Rücken zur Wand für kreativen Widerstand
Also frag’ nicht, wer wir sind!
Wir sind die Söhne der Gastarbeita .

.. (Text und Musik: Sons of Gastarbeita 77)

03 10 16 MasterAbend SOG klein

SOG – Sons of Gastarbeita

Gandhi Frank Baier 2006 01 Ingo Nordhofen
SOG – Gandhi on stage – mit Frank –

Inhalt

  1. Leben Kämpfen Solidarisieren
  2. Unser Marsch ist eine gute Sache
    Von den Ostermärschen Mitte der 60er Jahre
  3. Die Waldeckfestivals 1964-69
    Wurzeln und Kinderstuben der Lieder in NRW
  4. Aufbruchstimmung 70er Jahre
  5. Musikszene im Pott - Lieder der 80er Jahre
  6. Kommt ausse Pötte - die 90er Jahre
  7. Nachgesang

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