4. Lieder der achtziger Jahre:
von „Rauchzeichen …“ bis „Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt“
Rauchzeichen
Wenn ihr den letzten Baum zerstört
Dem letzten Fluß die Klarheit nehmt
Den letzten Wilden habt bekehrt
Der letzte Vogel nicht mehr singt …
Werdet ihr erst dann einseh’n
Daß ihr euer schönes Geld
Auf der Bank nicht essen könnt
Welch’ Menge ihr auch nennt …
(Text & Musik: Fred Ape; gesungen von ABB59)
Ape, Beck & Brinkmann: Regenbogenland. Klaus Beck, Peter Brinkmann, Fred Ape und KlausWerner Wollnowski (Technik) widmeten ihre Aufnahme vom Juni 1982 Greenpeace. Schallplatte des FolkFreak-Labels im Vertrieb von Geier Sturzflug: Bruttosozialprodukt, Schallplatte der Ariola.
Die Ära der Hauruck-Liedermacher mit ihren „Hammersongs“ und den „Brechstangen-Liedern“ ging zu Ende. Die ideologisch zugespitzte Verbalakrobatik ließ die neue Generation kalt. Nur die „Faust gereckt“ war out. Nun kam eine andere Qualität, ein neues Liedgefühl, eine andere Sprache. Musik und Text veränderten sich. Es rockte mehr. Die Verbissenheit wich einer lockeren Schnoddrigkeit: Der Bier(mann)-Ernst war draußen, dafür hieß es „dat muß doch auch wat Späßken bringen“. Die Musikgruppen mauserten sich zu Combos und Truppen, die mehr auf „Abfahr“-Musik setzten mit Saxophon und Bläsersatz, zwei E-Gitarren, Baß und Schlagzeug. Die PA-Anlagen wurden professioneller mit großen Mischpults, Monitoren on stage etc. Das Equipment kostete, also mußte der Saal voller sein.
Der Liedermacher der sechziger und siebziger Jahre mit seiner Klampfe oder Quetsche – mit oder ohne Bergarbeiter-Hemdchen – konnte mit seiner Finsternis noch bei Gewerkschafts- oder Demo-Veranstaltungen zur Höchstform auflaufen. Die Entwicklung bei Ape, Beck & Brinkmann war bezeichnend: Sie brachten nun FolkRock vom Feinsten, mit Texten von ökologisch bis futuristisch wie das „Regenbogenland“ und „Die Träumer sind die Ersten“, mit einem sauberen Sound, astrein abgemischt, fast studioreif.
Regenbogenland
An dieser Schwelle zum Atomtod
Was ist noch unser Leben wert
Wenn Wahnsinn längst schon ganz normal ist –
Und sich kaum einer daran stört
So sind wir doch ein Stück Geschichte
Und das Leben fällt uns schwer
Doch sollen unsere Kinder wissen
Da gab es eine Gegenwehr
(Auszug, Text & Musik: Fred Ape, gesungen von ABB6 0)
Die Songs schrieb meist Fred Ape. Themen waren Umweltzerstörung, Entfremdung und ganz persönliche Sehnsüchte. Es waren Balladen, Chansons und Folk-Rock mit deutschen Texten. Die Gruppe nahm die LPs „Im Laufe der Woche“6 1 (1980), „Regenbogenland“ (1981), „Die Träumer sind die Ersten“ (1984) und „Wilde Motive“ (1986) auf und brachte auch Song-Hits, „Rauchzeichen“, „Lauf“, „Trotzdem weiter“, „Eine Spur zuviel Salz“, „Regenbogenland“. 1979–88 hatte die Gruppe ca. 1200 Auftritte.
Noch deutlicher zeigte sich die neue Entwicklung in Bochum: Geier Sturzflug, früher Dicke Lippe, rückte mit einem nicht brandneuen, aber starkem Pott-Reggae nach vorn an die Rampe. In der Küche von Hildegard Doebner (Folkclub Witten) waren Friedel Geratsch und Co. über Elster Silberflug hergezogen: „… dann nennen wir uns Geier Sturzflug, kommt einfach besser“. Der Hit von 1982 war das „Bruttosozialprodukt“. Ihn hatten sie schon als Dicke Lippe im Folkclub-Witten 1978 unter großem Gejohle abgesungen.
Bruttosozialprodukt
Wenn früh am Morgen die Werkssirene dröhnt
Und die Stechuhr beim Stechen lustvoll stöhnt
In der Montagehalle die Neonsonne strahlt
Und der Gabelstapelführer mit der Stapelgabel prahlt …
Ja dann wird wieder in die Hände gespuckt,
Wir steigern das Bruttosozialprodukt
An Weihnachten liegen alle ’rum und sagen puhuhu
Der Abfalleimer geht schon nicht mehr zu
Die Gabentische werden immer bunter
Und am Mittwoch kommt die Müllabfuhr und holt den ganzen Plunder
Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt …
(Auszug, Text und Musik: Geratsch & Co.6 2)
Zu den weiteren Liedermachern und Gruppen, die sich während der achtziger Jahre besonders engagierten, zählen:
Frank Baier
Frank Baier, Duisburg: Liedermacher, Musiker, eigenes Archiv, eigene Lieder und Texte, u. a. für Kampf der Bewohner in der Zechenkolonie Rheinpreußen. Sendungen: WDR-Hörfunk, Matinee der Liedersänger (live); WDR-Fernsehen: Portrait „Über unseren Kohlenpott“ wird durch Programmdirektor zensiert. Weitere Zensur: „Radiothek-Lied“, September 1980; LP „Auf der schwarzen Liste“ (1981) und Buch „Arbeiterlieder aus dem Ruhrgebiet“ (1981). Häuserkampf-Sampler „Schöner wohnen – Abber fix!“ (1981) u. a. mit MEK Bochum, ABB, Cochise; 1982/83 Konzertreise nach Madagaskar und Tournee mit der madegassischen Gruppe Rossy in der BRD. 1983 Programm und LP „Türkisch-deutsche Lieder“ mit Mesut Cobancaoglu (bis 1986);
1987 EP „Rheinpreußen ruft Alarm“. Lebt seit 1987 in der Rheinpreußen-Genossenschaft.
Foto 1120
Frank Baier in seiner Duisburger Wohnung, 1979.
Foto: Florence Kraak.
Cochise
Cochise, Dortmund: seit 1979, Folk-Rock-Gruppe um Pit Budde (Songschreiber, Gitarrencrack), Klara Brandi (Baß) und Peter Freiberg (Schlagzeug) u. a., spezieller Sound, deutsche Texte, Instrumentalstücke mit starkem Gewicht auf der musikalischen Umsetzung und den Arrangements. Eine Szene-Band der Autonomen in Dortmund und anderswo. LPs „Rauchzeichen“ (1979) mit Songs von Fred Ape und Pit Budde, „Wir werden leben“ (1981) mit „Atemnot“, „Jetzt oder nie, Anarchie“, „Letzten Somma“. Sampler-LPs „Für die Indianer“ (ca. 1982) mit ABB, René Bardet u. a. und „Schöner wohnen – Abber fix!“ (1981).
Fasia
Fasia, Oberhausen: Ostermarschiererin bis 1997, Frauenbewegung. TV-Filme: „Von trutzigen Frauen und einer Troubadoura“ (Re Karen, 1987), „Frauengeschichten“ (Christel Priemer, BR 1985); Lieder gegen Menschenverachtung, Arbeitslosigkeit. Und für die Frauen: Heintze-Frauen (gleicher Lohn), Hoesch-Frauen, die Frauen von Rheinhausen …; „Keiner schiebt uns weg“ (Streik-Hymne), LP „Fasia – Los, kommt mit“ (1981) mit Ostermarsch-Liedern an der Abschußrampe (Dokumentation). Internationale Frauen-Konferenz, Nairobi 1985. Friedenstournee 1987 durch Europa, 20 000 km, über fünf Monate gemeinsam mit Ellen Diederich u. a. Bundesverdienstkreuz Januar 1991 als „freiberufliche Liedermacherin und Sängerin“. Gestorben 29. Dezember 1997.
Geier Sturzflug
Geier Sturzflug, Bochum: Ruhrpott-Reggae-Combo um Friedel Geratsch, früher Dicke Lippe. Ab etwa 1980 mit Hits überregional als Profis durchgestartet. 1. LP „Geier Sturzflug – runtergekommen“ (1981), mit „Schotter blau gebündelt“, „Reggae im Ruhrgebiet“, „Marihuana“. Auf Sampler „Schöner wohnen – Abber fix!“ mit „Star vom Polizeifunk“. Single-Hits 1982: „Bruttosozialprodukt, Früher oder später“, „Euroshima“, „Besuchen Sie Europa“.
Liedermeier
Liedermeier, Duisburg: Helmut Meier, seit ca. 1971 als Musiker und Liedermacher, später sowohl als Profi-Kabarettist als auch mit Kinderliedern auf Tournee, eigene Songs seit 1976. 1. LP „Liedermeier – Vermächtnis eines Unbekannten“ mit „Kalkar“. LP „Balance“ (1986) mit „Eisenbahnsiedlung“, „Ayshe und Ahmed“mit Barney Brands (Keyboards, Akkordeon), Frank Baier (Ukulele) u. a. Plazierungen in SWF-Liederbestenliste und Förderpreis (1986–88). LP „Herzschlag“ (1988) mit „Warum“, „Keine Angst“ und „Herzkasper“, da schon mit Uli Masuth (Klavier, Keyboards) als Duo „Meier Plus“. Kabarett- und Kinderlieder-Programme.
Norbert & Walter
Norbert & Walter, Gelsenkirchen: Folk-Duo mit Liedern gegen Rüstung, Neonazis und für eine Umwelt, in der es sich lohnt zu leben. 1. LP (1981) „Leute, wo wir wohnen“ u. a. mit „Hünxe Blues“; eigene Lieder und Texte anderer Autoren. Folk-Szene, Jugendzentren.
Stoppok
Stoppok, Essen: Folk-Rock, Rocksänger, Songpoet, Gitarrencrack. 1. LP „Stender Band – Erfrischungen“ (1980) mit Frank Benn (Gitarre), Julian Dawson (Harfe) u. a. mit „Gelbes Pferd, Grüner Bär“, „Unten am See“ und „Wetterwende“. Startet Stefan 1982 mit der Band Stoppok und der LP „Saure Drops & Schokoroll“ mit „Pappnasen“, „… den Papst gesehen“. CD „Nie genug“, 1990 die Banjo-LP „Stoppok“ mit „Zwischen Twen Tours und Seniorenpass“ und „Ärger“. 1991 CD „A’schklar“ mit „Risiko“, 1993 CD „Happy end im La-La-Land“ – vom Local Hero zum Rockstar überregional durchgestartet. Auch die Medien begriffen es: Stoppok ist stur und originell, respektlos, nicht käuflich. Stoppoks Kopplung – Abfahr-Musik und Rock kombiniert mit Bernie Conrads deutschen Texten – ist genial und funktioniert: „Was dir noch fehlt“ ist philosophisch, „Dumpfbacke“ ein Abräumer. Eigene feinfühlige Stücke mit Danny Dziuk wie „Wetterprophet“ und „Wie tief kann man sehn“. 1995 CD „Silber“ und 1997 „Mit Sicherheit“ als Nachbrenner aus dem eigenen Studio der Zeche ““Bonifacius“, Essen-Kray.
Zachze
Zachze, Duisburg und Bremen: Michael Zachcial, als Straßenmusiker unterwegs mit Balladen, Blues, Ruhrgebietsund Kinderliedern. 1981 Preis im Schreibwettbewerb “Jugend schreibt”, danach auf die Straße und auf die Bühne. MC 1988: “Wo geht’s denn hier zum Meer” mit eigenen Liedern, BrechtVertonungen u. a. MC 1989: “Himmel, Arsch und Zwirn”, später Duo “Grenzgänger” (Zachze und Jörg Fröse). 1. Preis in der Lieder-Bestenliste des SWF, Folk-Förderpreis 1995 für die CD “Grenzgänger – Schiffe nach Amerika”, Emigrantenlieder und Texte von H. v. Fallersleben u. a.; traditionelle und eigene Lieder. Später unterwegs mit Kinderprogrammen als “Zaches & Zinnober”.
Zündholz
Zündholz, Gelsenkirchen: Folk-Duo, Kalle Gajewski (Gitarre) und Norbert Labatzki (Saxophon), später als Alleinunterhalter Stolzenfels – macht „Schweinkram“. Kalle weiter solo: eigene deutsche Texte und Lieder, Vertonungen von Autoren der Literaturwerkstätten, u. a. Josef Büschers „Bergmann an der Himmelstür“ und Ruhrgebietslieder, z. B CD von 1996 „Auf Schalke 04 – Hugo Consol und seine Knappen“.
Himmel an der Emscher
Mitten im Klimawandel der achtziger Jahre stand das Lied „Himmel an der Emscher“. Es entstand 1982 zur drohenden Schließung der „Kupferhütte“ im sterbenden Stadtteil Duisburg-Hochfeld. Doch der Text sollte Bestand haben: 1987 entbrannte in Sichtweite auf der anderen Rheinseite im Stadtteil Rheinhausen ein weiterer Kampf um Arbeitsplätze. Massiver noch als in Hochfeld. Die angekündigte Schließung der „Krupp-Hütte“ mit Hochöfen und Walzwerk brachte nicht nur den Stadtteil in Wallung, sondern gipfelte in einer Protestwelle mit überregionalen Solidaritätsaktionen bis hin zu Sperrungen wichtiger Zufahrtsstraßen u. a. auf der „Brücke der Solidarität“. Nicht nur den Menschen im Stadtteil, vom Stahlarbeiter bis zum Bäcker, ging der Atem schwer, auch den Liedermachern in Duisburg und anderswo im Ruhrgebiet ging langsam die Luft aus. Darüber konnten selbst die riesigen „Aufruhr-Konzerte“ auf dem Hüttengelände nicht hinwegtäuschen. „Die Kleinen und die Sterbenden halten fest, was ihnen lieb und warm. Und die Kalten schmeißen einfach weg und laufen fort …“
Himmel an der Emscher
Blau wird der Himmel – an der Emscher
Grün die Wälder – schönes Ruhrtal
Das Leben wird karg hier – karger als je zuvor
Menschen wandern ab – verrammeltes Fabriktor
Ref.: Bleibst du hier – an der Ruhr?
hält es dich wie zuvor?
Mutter Kohle – Vater Stahl
sterben weg – im Ruhrtal
All die Geschichten –
ich wollt sie hören
ich ging zu den Alten –
die vom Pütt mir erzähl’n.
Auch sie gingen weg und nahmen mit in ihr Grab
eine andere Geschichte, die fast mit ihnen starb.
Ich hör’ den Atem,
Wie er schwer geht bei den Menschen hier
Die Sorge macht sich breit – ja um das täglich Brot.
Die Kleinen und die Sterbenden
Halten fest, was ihnen lieb und warm
Und die Kalten schmeißen einfach weg
Und laufen fort – laufen fort
Ref.: Bleibst du hier – an der Ruhr? hält es dich wie zuvor?
Mutter Kohle – Vater Stahl sterben weg – im Ruhrtal
Blau wird der Himmel – an der Emscher
Grün die Wälder – schönes Ruhrtal
Das Leben wird karg hier –
karger als je zuvor
Menschen wandern ab – verrammeltes Fabriktor
Ref.: Bleibst du hier – an der Ruhr? …
(Text und Musik: Frank Baier)
Ende der achtziger Jahre war deutlich geworden: Nicht nur die Industrielandschaft begann sich zu verändern, sondern auch die der Kultur. Die Liedermacher und die Musikszene im Ruhrgebiet begannen langsam auszutrocknen. Selbst große und bekannte Gruppen wie Ape, Beck & Brinkmann oder Geier Sturzflug haben das Handtuch geschmissen oder versucht, im kommerziellen Sektor Fuß zu fassen. Den „Kleinen“ ist schon vorher die Luft ausgegangen. Wir konnten nicht mehr dagegen anblasen, uns „Alten“ fehlte mittlerweile als Sänger und Texter auch eine gewisse Leichtigkeit des Seins, mit der Politik, der Kultur und der Nähe zu den Adressaten spielen zu können. Wir waren da etwas hölzern geworden. Vielleicht liegt hier auch die Chance derjenigen, die mit ihren neuen Liedern in den folgenden Jahren auf unsere Schultern steigen können.
Foto 1127
Duisburg-Bruckhausen, vor Frank Baiers Haustür. Foto: unb.
Eine andere Kulturpolitik begann zu greifen. Kultur – auch oder gerade im Ruhrgebiet – wurde als Wirtschaftsfaktor begriffen und von den „Kultur-Machern“ und Politikern als „Eventkultur“ betrieben. Mit großen „Mittel-Töpfen“ des Landes und Sponsoren im Rücken wurden „Megastars“ aus dem Ausland eingeflogen und in großen „Kraftzentralen“ an ein großes Publikum verkauft. Die „Kleinen“, ob junge Pflanzen, Wildwuchs oder knorrige Eichen der heimischen, regionalen Kultur, waren draußen. Dafür war kein Düngemittel und keine Gießkanne mehr vorhanden.