Mit der Zeitmaschine durch mehr als
100 Jahre Arbeiterlied im Ruhrgebiet

#Kohlengräberland

Eine Reise in acht Stationen: von Heinrich Kämpchen und den Streiks im Deutschen Kaiserreich über Grubenunglücke und Freikorpssoldaten in den 1920er Jahren und dem Faschismus, dem Wiederaufbau nach 1945, dem Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und gute und bezahlbare Wohnungen bis zu den Liedern der Arbeitsmigranten

Einleitung

Irgendwann werden wir es uns eingestehen müssen: Das, was wir unseren Kindern verschwiegen haben, war entscheidender, als das, was wir ihnen erzählen oder vermitteln wollten. Schon immer haben wir den Kindern Entscheidendes vorenthalten – egal ob zu Hause, in der Familie oder in den Schulbüchern. Wir haben ihnen unsere Vergangenheit, unsere Geschichte vermittelt – einseitig, von oben herab und von einer Angst geprägt – unserer Angst in ihren Augen versagt oder an entscheidender Stelle Entscheidungen getroffen zu haben, die weder elegant noch würdevoll waren. Wir haben Politik betrieben. Das letzte Mittel, Verhältnisse zu erzwingen – ob politisch oder familiär, ist Druck oder Gewalt – militärisch. Und die militärische Aktivität eines Staates ist Eingeständnis für seine Unfähigkeit – auch seine Lernunfähigkeit.

Wir arbeiten gerade an unserem CD-Projekt März 1920. Wir, die Gruppe Grenzgänger und ich versuchen, ein verschollenes, nein – ein tabuisiertes Kapitel deutscher Geschichte zu begreifen und musikalisch umzusetzen: Kapp-Putsch oder die März-Revolution 1920 im Ruhrgebiet.

Und wir sitzen plötzlich in einer ,Zeitmaschine‘, die mit hoher Frequenz und Geschwindigkeit rast.
Ort: Duisburg, ehemalige Bergarbeiter-Kolonie Rheinpreußen-Siedlung, Zechenhaus (erbaut 1903).
Zeit: März 2003. Mitten in unserer Studioarbeit beginnt der Irak-Krieg.

Fragen über Fragen – Texte, Tonbandaufzeichnungen von Liedern (1920 gesungen und getextet von Arbeitern), Bücher, Archivmaterial, Mikrofone, Studiomaschine, Gitarren, Quetschen…

22. März 2003: NRZ: Irak im Bombenhagel, dazwischen: Nachrichten im Radio und im Fernsehen. Bilder von Bomben auf Bagdad. Die USA greifen den Irak an. Die Bundesregierung verärgert George W. Bush mit ihrem Unverständnis über diese Art von ,Kreuzzug‘ – ohne Beteiligung der UN.

Wäre Kanzler Schröder auch in Nichtwahlkampfzeiten zu dieser Entscheidung gekommen? … und 1920 – Warum entscheidet sich eine SPD-Regierung (Kanzler Friedrich Ebert, Minister Noske), dieselben putschenden Offiziere, Freikorps- und Reichswehrsoldaten und eine ,Brigade Ehrhardt‘ – mit Hakenkreuz am Stahlhelm – die sie vorher aus Berlin verjagte haben (Kapp-Putsch), wieder einzusetzen. Mit einem Generalstreik wurde ,ihre‘ Regierung von den Arbeitern wieder erfolgreich in den Sattel gehoben. Und nun lassen sie die streikenden Arbeiter im Ruhrgebiet von denselben reaktionären Soldaten erschießen und erschlagen – massenweise, zu Hunderten? Warum? Aus Angst, die Kontrolle zu verlieren? An wen wurde die Kontrolle abgegeben? Was hatte das mit 1933 zu tun?

Ich lese gerade Sebastian Haffner, Zitat: “ […] Das war meine erste Bekanntschaft mit dem Hakenkreuz.
Es war das einzige, was der Kapp-Putsch Bleibendes hinterließ. Man sah es öfter in der nächsten Zeit […]
. (Sebastian Haffner: „Geschichte eines Deutschen“)

Ganz nebenbei: Hatten die Amerikaner je den Mut, ihre Kids über die Entscheidung aufzuklären, warum sie zwei Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abwarfen und hunderttausende Menschen getötet oder verstümmelt haben? An was glaubt George W. Bush, wenn er von einem göttlichen Auftrag redet, um seinen Feldzug gegen den Irak zu legitimieren? Oder war es eine Lüge? Oder hat er vom Baum der Erkenntnis gegessen, der ihn so weise sein lässt, um nach Belieben über Tod und Leben bestimmen zu können?

Die Bush-Administration bezeichnet sich selbst als ,Demokratische Imperialisten‘. Sind wir mittlerweile so dicht im Kopf, dass wir die Worte und ihre Bedeutung nicht mehr erkennen?

Die Zeitmaschine und unsere Köpfe laufen auf Hochtouren. Wir finden einen Text des Arbeiterdichters Johannes Leschinsky (geb. 1903) in den O-Ton-Aufzeichnungen und vertonen diesen neu:

Wer zettelt denn immer die Kriege an – es sind doch immer die gleichen.
Doch nie war es der Arbeitsmann – es sind immer nur die Reichen.
Die gehen auch über Leichen.

Wann hat er diesen Text geschrieben, der da von seinem Kumpel Johann Grohnke zitiert wird?

Wann haben wir endlich den Mut, aus unseren Niederlagen zu lernen, die Widersprüchlichkeiten – in und um uns – nicht glatt zu bügeln, sondern anzuerkennen? Niederlagen nicht nur auf die Niederlage zu reduzieren, denn in fast jeder Niederlage stecken auch kleine Siege und- nicht zuletzt neue Einsichten, die helfen, den Kreislauf zu durchbrechen von völkischem Nationalismus, Rassismus, der Abwehr von Fremdem und den Militarismus – von gestern. Wir haben nach 1945 bereits Fortschritte gemacht. So bitter auch immer die Niederlagen waren, so verheerend ein Faschismus. Auch lohnen die Anstrengungen um ein erneuertes, ein kollektives Bewusstsein, das uns hilft, die Chancen für eine Weltgemeinschaft zu erkennen. Diese kann nur gelingen und existieren, wenn wir lernen zu teilen, mit allen- und nicht trennen. Wenn wir das begreifen … Teilen heißt: Reicher werden an und durch die Anderen!

Die Geschichte von ,unten‘ sieht anders aus, sie wird uns nicht in den Geschichtsbüchern erzählt Gelehrte und Professoren beschreiben sie nicht, weil diese Widersprüchlichkeiten aufdeckt, die il1nen vielleicht fremd sind und in ihren Familien nicht thematisiert wurden. Oder verbietet ihnen so etwas ihre deformierte Wahrnehmung. Außerdem würden die Sponsoren diese Form von Wissenschaftlichkeit nicht bezahlen wollen, weil sie weder der Wirtschaft und der Industrie, noch den herrschenden politischen Machthabern in den Kram passt. Und Geld bestimmt den Medienmarkt – 1933 wie auch heute, 2003. Die Methoden der Meinungsbildung haben sich nicht verändert

(Kirch zahlt H. Kohl Millionen für Berater-Vertrag – WAZ vom 14. April 2003).

„Wahre Worte sind nicht schön- und schöne Worte sind nicht wahr.“ (Lao Tse)

Wir belügen unsere Kinder immer noch. Wir erzählen unseren Kindern nicht immer die Wahrheit über unsere familiäre sowie unsere deutsche Vergangenheit, damit sie nicht erkennen, wie wir wirklich wurden, was wir sind. Und wir wissen es unterbewusst – unser ständiges schlechtes Gewissen und unsere Schuldgefühle verraten es.

Meine Tochter hat sich als 16-jährige für ihren Vater geschämt, weil er im Fernsehen nicht populäre Songs oder Liebeslieder gesungen hat, sondern ein Lied über die ,Schwarze Liste‘ (1889) von dem Arbeiterdichter Heinrich Kämpchen. Und sie hat mich bei ihren Freunden verleugnet.

Auch da hat sich einiges verändert. Wir bezeichnen unsere ,Lieder aus dem Ruhrgebie‘ mittlerweile als ,Heimatlieder‘ und sie werden heute – nicht nur von Regionalisten – als ,Liebeslieder‘ für eine Region erkannt. Wir knüpfen beharrlich an ein traditionelles Liedgut an, um die Lieder rüber zu retten auf die andere Seite des F1usses, bevor sie uns entfremdet und tot gesungen werden – nach 1933.

„Davon erzählt kein dickes Buch, was sich am Lippeschloss zutrug (…]“,
sang uns Johann Grohnke über die ,März-Unruhen‘ 1920 im Ruhrgebiet

Wir singen über eine Geschichte von unten.
Lieder sollen und können Mut machen.

Denen, die sie hören – und auch denen die sie singen.

März 2003

Es kann losgehen. Unsere Zeitreise kann beginnen. Aber wir müssen zuerst ein kleines Stück zu Fuß gehen, bevor wir einsteigen in die Zeitmaschine.

2001

Ort: ehern. Zechenkolonie Rheinpreußen-Siedlung in Duisburg-Homberg. Wir laufen zwischen alten Bergarbeiterhäusern im Schatten von großen ca. hundert Jahre alten Platanen und hören schon von weitem mehrere Stimmen singen und lachen – auch Kinder sind dabei. Es ist Sommer. Wir haben Glück. Das Rheinpreußen-Straßenfest ist in vollem Gange.

Die Straße ist abgesperrt, Grillschwaden ziehen uns entgegen und jetzt hören wir gerade wieder den Refrain des Liedes mit: „simserirn sim sim und tätärä“ und dann wieder unter großen Gelächter: „wau wau wau“. Es soll zwar böse klingen, aber wenn wir jetzt die Gesichter erkennen, ist der Spaß dabei unverkennbar.

Jetzt beginnt wieder der Vorsänger:

“Als die Zechen und die Werke -wurden groß an Wuchs und Stärke.
So um die Jahrhundertwende brauchten sie Malocher Hände,
und sie bauten Häuser- Zechenherrn, der Konzern, Stahl- und Hüttenindustrie.

Und der gemischte Chor von Frauen, Männern und Kindern auf der Straße –
fällt in die letzte Zeile ein und singt wieder fröhlich lachend den Refrain:
“simserirn sim sim – tätärä tätä – wauwau wau wau”

“Und es kamen viel gelaufen, auch vom Osten ganze Haufen.
Du kriegst Arbeit und dein Häuschen, dafür bist du still wie Mäuschen,
dafür darfst du wohnen. Ha, das muß sich lohnen!
Für Herrn Thyssen und Herrn Krupp und den ganzen Wirtschafts-Club. Simserim … tätärä.

Miete zahlen Generationen, weil sie nicht umsonst hier wohnen.
Und noch Basteln, Hämmern, Sägen – Lokus, Hof, bis hoch zur Schrägen.
Müssen selber reparieren! Alles selber Renovieren!
Für Salzgitter, Thyssen, Harpen- und die Ruhrkohle AG.
Simserim sim sim, tätärä tätä, wau wau

Text: Frank Baier  –  Melodie: trad., frei nach: Als die Römer …

Da wird Geschichte nicht erzählt, sondern gesungen: von den Menschen und den Zechenkolonien im Ruhrgebiet, da werden Namen genannt von den Stahlbaronen, den Siedlungshändlern und Spekulanten, die Geschichte von Wirtschaftskrise und Verkauf der Siedlungen gegen den Willen der Bewohner.

Das Lied heißt ,,Als die Mieter frech geworden … stoppten sie das Siedlungsmorden. Und an Ruhr und Emscher, wurden Mieter Kämpfer … “.Ein ,Heimatlied’, jeder kennt die Melodie und singt mit, auf “Als die Römer frech geworden …”

Und wie sah es vor hundert Jahren genau an der gleichen Stelle aus? Und schon sitzen wir drin in der Zeitmaschine. Zu spät, … hat schon abgehoben!

Kohlengräberland

Kohlengräberland

Kohlengräberland – Zeitmaschine: Lieder aus dem Ruhrgebiet 1889 – 1920 – 1967 – 2003

  1.  Intro: Die Zeitmaschine startet
  2. Im Ruhrkohlengebiet (1904)
  3. Auf der Schwarzen Liste (1889 - 1911)
  4. Der Kaiser hat in Sack gehaun (1919)
  5. Der Ruhrkumpel spricht
  6. Mein Vater war Bergmann
  7. Bruckhausen-Walzer (1978-79)
  8. Söhne der Gastarbeita
  9. Finale: März Rap 1920