Mit der Zeitmaschine durch mehr als
100 Jahre Arbeiterlied im Ruhrgebiet

4. Der Ruhrkumpel spricht

Eine Reise in acht Stationen: von Heinrich Kämpchen und den Streiks im Deutschen Kaiserreich über Grubenunglücke und Freikorpssoldaten in den 1920er Jahren und dem Faschismus, dem Wiederaufbau nach 1945, dem Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und gute und bezahlbare Wohnungen bis zu den Liedern der Arbeitsmigranten

  • Zeche Minister Stein
  • Der Ruhrkumpel spricht 1925
  • 14% Dividende 1930

Unsere Zeitmaschine ist zehn Jahre nach vorne gefahren, das Jahres-Display zeigt: 1930. Von weitem sehen wir die drei, vier Musiker am Straßenrand auf uns zukommen. Sie humpeln am Bordstein lang, einen Fuß unten auf der Straße und einen oben auf dem Bürgersteig, während sie ein Marschlied spielen. Jetzt bleiben sie auf unserer Höhe stehen, hier fängt wieder ein Wohnblock an, den sie kennen. Die Kinder sind längst schon von den Hinterhöfen nach vorne gelaufen, als sie die Musik hören.

Bei dem Block müssen die Musiker und Sänger ein bisschen auf die Tränendrüse drücken, denn hier wohnen genügend alte Kumpels und Bergarbeiterwitwen, die ihre Groschen in ein Stück Zeitungspapier wickeln und runter auf die Straße werfen. Franz Matschy ist der heimliche Kapellmeister und einfach auch mit seinem massigen Körper und der Geige der Dominanteste. Die anderen sind alle Hungerhaken und etwas schüchtern. Franz hat das Kommando: Minister Stein raunt er in die Runde, und schon legt er einen vor und spielt erst mal mit seiner Geige alleine, bis die anderen alle drin sind. Der Kleine mit seinem umgehängten Bandoneon ist noch frisch und darf nicht so laut spielen, der soll mit den Bässen den %-Takt halten. Und schon legte der Lange wie ein Bänkelsänger los und wiegt seinen Körper dabei im Takt und die Kumpels singen den Refrain mit, dass es schaurig schön bis zu den obersten Fenstern zu hören ist:

Zeche Minister Stein

1925 – ach das war ein Unglücksjahr,
II: 136 Knappen- warcn’s am 11. Februar. :Il

Nah bei Dortmund liegt eine Zeche – die sich nennt Minister Stein
II: Drinnen fuhren früh am Morgen viele brave Knappen ein. :II

Und die schwarzen Diamanten – kämpften sie ans Tageslicht.
II: Keiner von den Kumpels ahnte – daß es sei die letzte Schicht. :II

Kaum eine Stunde war vergangen – da, mit einmal war es Schluß.
Manche volle Kohlewagen – war der letzte Abschiedsgruß.

Durch die Strecke kam der Steiger – nur die Leuchte war zu sehn.
II: Seinen Kam’mden “Glück auf’ zu sagen-als das Unglück war gescheh’n :Il

Rettet euch, Brüder, wir sind verloren- rettet euch, Brüder aus der Not.
II: Schlagende Wetter sind ausgebrochen -schlagende Wetter sind unser Tod. :II

Doch die Aktien steigen weiter – grad als müßte das so sein.
II: Trotz der 136 Toten -auf der Zeche Minister Stein. :II

Text und Melodie: unbekannt

Wir haben das Lied inzwischen auch in dem Bordcomputer gefunden, der zeigte sofort mehrere Text-Variationen an. Die, die wir gerade hörten war eine mündliche Überlieferung von einem alten Kumpel aus Recklinghausen, der Jacob Veith hieß. Vor allem in der letzten Strophe, wer denn Schuld an diesem Unglück sei, da gab es die verwegensten Vermutungen und Beschuldigungen: von den Kapitalisten und Treibern, Ausbeutern bis zu den Aktionären. Auch die Steiger kriegten ihr Fett weg.

Jetzt müssten die Sänger eigentlich noch einen drauflegen, so gut hat ihnen heute das Bänkellied selber gefallen. Hier würde genau das Lied 14% Dividende hinpassen, um noch mehr die Gefühle bei den Zuhörern anzusprechen. Der Text ist ganz neu von einem Viktor Kalinowski, der eine Notiz in der Deutschen Bergwerks-Zeitung gelesen hat, dass das große Unglück auf der Zeche Anna bei Alsdorf auf die Dividende ohne Einfluss bleiben dürfte.

Die schrieben doch glatt: „Die 14% Dividende ist bis zum Jahre 1942 garantiert!“ Darüber ist unter den Kumpel heftig debattiert worden und der Kalinowski hat dann den Text geschrieben und an die Bänkelsänger weitergegeben. „Singt dat, dat muß anne Öffentlichkeit! Die Kumpels sterben unter Tage, und die Schweine und die Aktionäre machen noch’n Schnitt dabei!“ Aber dann sieht der Franz nach oben in die verweinten Augen ,von den Mütterkes am Fenster‘ und entscheidet sich anders. „Wir singen …“

Ruhrkumpel spricht

Glückauf, Glückauf! Der Ruhrkumpel spricht
Dreißig Jahre lang hab ich Kohle gebrochen.
Über Tag, unter Tag, bei Tag und bei Nacht.
Ich bin auf dem Bauch durch die Stollen gekrochen
für dich doch, oh Herr, für dich dort im Schacht!

Glückauf, Glückauf! Der Ruhrkumpel spricht:
Dreißig Jahre lang bin ich Kuli gewesen.
Über Tag, unter Tag, bei Tag und bei Nacht.
Habe Gold aus dem Dreck unserer Erde gelesen
und habe, oh Herr, es treu dir gebracht!

Glückauf, Glückauf! Der Ruhrkumpel spricht:
Dreißigjahre lang hast du mich beschissen.,
über Tag, unter Tag, bei Tag und bei Nacht.
Und dann hast du mich raus auf die Straße geschmissen!
Und das hast, oh Herr, du recht so gemacht!

Und dann hast du mich raus auf die Straße geschmissen!
Weil ich nicht, oh Herr, es mit dir so gemacht!

„Franz, von wem ist das Lied vom ,Ruhrkumpel‘?“ „Keine Ahnung, wo das herkommt. Anonym, oder so. Ein Kumpel hat das aus Berlin mitgebracht. Ich weiß nur, der Ernst Busch soll das gesungen haben. Auf einer Demonstration wurde das zum ersten Mal gehört: Glück auf, der Ruhrkumpel spricht. Überall spielen die Bergkapellen am 1. Mai: Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt’ – und alles singt feucht fröhlich mit und den Zechenherren gefallt das sehr. Dann hat Busch irgendwoher den anderen Text bekommen und ihn als Parodie auf das schmalzige Traditions-Lied mal kurz aus der Sicht des Ruhrkumpels gesungen, also schon mit der anderen Melodie.“

Kohlengräberland

Kohlengräberland

Kohlengräberland – Zeitmaschine: Lieder aus dem Ruhrgebiet 1889 – 1920 – 1967 – 2003

  1.  Intro: Die Zeitmaschine startet
  2. Im Ruhrkohlengebiet (1904)
  3. Auf der Schwarzen Liste (1889 - 1911)
  4. Der Kaiser hat in Sack gehaun (1919)
  5. Der Ruhrkumpel spricht
  6. Mein Vater war Bergmann
  7. Bruckhausen-Walzer (1978-79)
  8. Söhne der Gastarbeita
  9. Finale: März Rap 1920