Mit der Zeitmaschine durch mehr als
100 Jahre Arbeiterlied im Ruhrgebiet

6. Bruckhausen Walzer (1978-79)

Eine Reise in acht Stationen: von Heinrich Kämpchen und den Streiks im Deutschen Kaiserreich über Grubenunglücke und Freikorpssoldaten in den 1920er Jahren und dem Faschismus, dem Wiederaufbau nach 1945, dem Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und gute und bezahlbare Wohnungen bis zu den Liedern der Arbeitsmigranten

  • Bruckhausen Walzer 1978
  • Ausländerfragen
  • Ballade von der Auferstehung – Streikweihnacht
  • Mit 35 Stunden geht’s voran Januar 1979

Wo sind wir denn hier gelandet?

Wir lassen erst mal eine riesige Qualmwolke wegziehen, um überhaupt sehen zu können, wo wir sind. Riechen kann man es schon, jetzt bloß nicht sprechen oder gar einatmen. Automatisch geht die Hand vor die Nase und der Blick in die Richtung, woher der Dreck kommt

Eine riesige Kulisse von Schornsteinen, Türmen, Rohrtrassen und dahinter ein großes fensterloses Stahlblechgebäude -das Oxygenwerk- mit drei Feuertöpfen auf dem Dach, aus dem meterhohe Flammen schlagen und Unmengen von Staub und Qualm in die Gegend blasen. Wir sind genau gegenüber vom Thyssen-Stahlwerks und der alten Kokerei im Duisburger Norden gelandet. Hier ist die ,Bronx’. Und hier wohnen sogar Menschen.

Stadtteil Bruckhausen, im Volksmund auch als ,Klein-Istanbul’ oder ,Apatschenhausen’ berühmt und berüchtigt. Was wollen wir denn hier?

Wir haben gar nicht gemerkt, dass wir immer noch fassungslos mitten auf der Straße stehen. Denn plötzlich hören wir hinter uns Kindergeschrei: “Platz da!” und eine Peitsche knallt, und schon rauscht eine kleine Kutsche mit zwei Ponys an uns vorbei. Die Kinder johlen und quietschen vor Vergnügen über die Ponyfahrt durch ihren Stadtteil. Ihr Papa hat für jedes Kind eine Mark bezahlt und wartet jetzt am Info-Stand der Biirgerinitiative Bruckhausen, der BIB am Wilhelmplatz, dass alle wieder wohlbehalten zurückkommen. Das Geld wird dringend für die nächsten Flugblätter und die Plakate gegen den Abriss und die Umweltverschmutzung benötigt, und Heinz-Gerd spannt dann immer die Ponys BIB und BAB vor die Kutsche und macht Kindertaxi.

Komm jetzt bitte keiner auf die Idee, die Leute von der BIB zu fragen, warum sie nicht wegziehen …? Damit macht man sich hier keine Freunde. Und hier wird sogar noch gesungen? “Ja klar, um Thyssen zu ärgern und den Stadträten den Marsch zu blasen! Die haben nämlich eines gemeinsam: Die tun zu wenig für die Bürger und benehmen sich hier wie die Dreckschweine, jawoll!”

Bruckhausen-Walzer

Hochofen DU - Bruckhausen

Dienstags ist in Bruckhausen immer BIB –
hört sich verdammt lustig an-ist es auch,
obwohl einigen so langsam das Lachen vergeht.
Zuerst ging uns der ewige Dreck auf den Wecker.

Wenn die nämlich bei Thyssen den Qualm abblasen –
da bleibt dir glatt die Luft weg.
Bloß weil die keine Filteranlagen einbauen –
sollen wir jedes Mal vorm Abendbrot den Sand
mit Besen und Kehrblech vom Tisch fegen.

Yulmas, mach das Fenster zu im Werk da wir gestochen
die Flamme lodert hell empor, ich hab den Koks gerochen.
Dann reden die dauernd von “Abreißen – Schandfleck!” –
um sich im Stadtrat schneller nach oben und im Werk in den Aufsichtsrat zu buckeln!

“ls nich!” haben wir vom BIB gesagt ,,Is nich! Ein Hochfeld reicht uns!
Von wegen verkommen lassen – Ausländer rein,
weil man die schneller rausschmeißen kann
und dann Kahlschlach! Kahlschlach!”

Bloß weil die für ihre Werke Parkplätze brauchen –
sollen wir aus unseren billigen Wohnungen rausgeschmissen werden –
und so’n Stadtrat kriegt dafür die ,Silberne Planierraupe mit Eichenlaub und Spitzhacke’.

Kläre, hol den Farbtopf raus – jetzt malen wir Plakate:
“Abgerissen wird hier nicht! Renoviert hier Haus und Straße!”
War doch klar, dabei der Sanierung propaganda dat große Muffensausen los ging!

Emma macht ihren Kramladen dicht,
an den Häusem rieselt der Putz runter und die Gasrohre zischen
Und der Onkel Doktor meint, er weiß nicht, was Staublunge auf türkisch heißt,
und schließt die Praxis!

Bloß weil die prophezeien: “Bruckhausen ist in fünf Jahren tot!”
Sollen wir uns ge­fallen lassen, wie man uns den Kran abdreht, und die Wanne lan am

So langsam wird Bruckhausen wach aus dem Dornröschenschlummer;
die Herren im Stadtrat werden schwach
ATH kriegt Liebeskummer.
Wat ist nur mit den Bruckhausenern los die lieben uns ja nimmer.
Welch Rechte sich der Bürger nimmt dat wird ja immer schlimmer.
Jetzt feiern sie noch unverschämt die Türken singen mit,
mit Jung und Alt beim Stadtteilfest hoch lebe BAB und BIB.

Heinz-Gerd, jetzt spann die Ponys an wir woll’n ne Runde drehen
für unser neues Bürgerhaus
Bruckhausen es soll leben!

Text und Musik: Frank Baier

“Na ja, es scheint den Leuten ja noch ganz gut zu gehen. Haben die sonst keine Probleme? Komm, starte deine Zeitmaschine, wo soll’s denn jetzt hingehen auf deiner ,liederliche’ Ruhrtour?”

“Oh bitte, ihr steht gerade richtig. Seht ihr da vorne die grüne Türe? Eine Koranschule. Und da vorne auch ne grüne Tür mit nem Wolf drüber. Und hinter dem Hochbunker: eine Moschee. Hier in den Häusern, seht euch mal die Klingeln an, wenn überhaupt noch welche dran sind: über 70% Türken. Aber die schaffen und handeln mit der kompletten Familie und sind meistens in Arbeit. Und die Deutschen hier sind sauer, weil sie arbeitslos sind. Die haben nichts begriffen. Die glauben wirklich, dass die Türken an allem schuld sind, weil die Kanaken ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen. Und darüber können die sich in Rage reden. Aber die ,Post geht ab’ zwischen den rechten und linken Türken. Mit den Fundamentalisten und ,Grauen Wölfen’ ist genau so wenig zu reden wie mit den rechten Deutschen, die hier mit ihren Schäferhunden und Pitbulls durch Straßen rennen und den Maxe machen.

In Bruckhausen sind heute weit über die Hälfte der Familien arbeitslos! Und die bleiben deshalb hier wohnen, weil die Mieten so billig sind. Die Häuser sind völlig runtergekommen und die Wohnungsgesellschaft von Thyssen kümmerte sich einen Scheißdreck darum, die Häuser zu erhalten und zu renovieren. Frag‘ sie doch mal selbst. Die Türken wollten doch alle spätestens in fünf Jahren wieder nach Hause in die Türke wenn sie genug Geld zusammen haben. Und jetzt? Sie sind immer noch hier. Und die jungen Leute wollen gar nicht erst wieder zurück, die sind hier geboren und groß geworden. Die sprechen besser deutsch als türkisch. Und die lieben Bruckhausen und hassen es gleichzeitig.

Na, wollt ihr noch ein Lied hören?“

Ausländerfragen

Wenn sie da an der Ecke stehn
und ihre Zigaretten drehn,
ob Deutsche oder Türken.
Denn beide sind jetzt arbeitslos,
bei beiden ist die Sorge groß,
doch einer muß jetzt gehen.

Wer war’s, der sie geholt hat in das Land?
Wer, der dieses Ausländer-Gesetz erfand?
Wer hat den Lohn für sie gesetzt?
Wer hat sie durch die Presse gehetzt?

Wo ist des Arbeiters Vaterland?
Überall – da wo er schafft mit seiner Hand.
Il: Und das ist diesmal hier!:II

Die Suppe, die jetzt bitter schmeckt,
weil alle Fettaugen abgescheppt,
die wollt ihr oben nicht mehr löffeln.
Erst lockt ihr sie mit Werbesprüchen,
dann schockt ihr sie mit Rechtsbrüchen
und setzt sie vor die Tür.

Wer hat an ihrer Wohnungsnot verdient?
Wer hat sie ,dreckige Sau‘ beschimpft?
Wer hat die ,Krise‘ aufgebracht
und sie dann arbeitslos gemacht?

Wo ist des Arbeiters Vaterland?
Überall – da wo er schafft mit seiner Hand.
II: Und das ist diesmal hier! :li

Und wer mit ihm zusammenlebt,
mit ihm am Arbeitsplatze
dem Türk zum Freund geworden.
Man schiebt ihn in die „Heimat ab
man bringt ihn Kraft Gesetz auf Trab.
Er ist Muskelschrott geworden

Wo ist des Arbeiters Vaterland?
Überall- da wo er schafft mit seiner Hand.
!I: Und das ist diesmal hier! :li

Also, Ihr Herren, nicht euer Vaterland.
Nicht Blut, nicht Boden – oder Gott gesandt.
Nein, diesmal sind es wir. Nein, diesmal sind es wir!

Text und Musik: Frank Baier

„Ich hab hier jahrelang gewohnt – mittendrin: Ecke Dieselstraße / Bayreuther Straße, oben unterm Dach, je nach Jahreszeit mit fließend warm und kalt Wasser vonne Wand runter. Der Text für so ein Lied springt dich förmlich an, wenn du hier lebst. Da muß man nicht lange drüber nachdenken … .“

Kohlengräberland

Kohlengräberland

Kohlengräberland – Zeitmaschine: Lieder aus dem Ruhrgebiet 1889 – 1920 – 1967 – 2003

  1.  Intro: Die Zeitmaschine startet
  2. Im Ruhrkohlengebiet (1904)
  3. Auf der Schwarzen Liste (1889 - 1911)
  4. Der Kaiser hat in Sack gehaun (1919)
  5. Der Ruhrkumpel spricht
  6. Mein Vater war Bergmann
  7. Bruckhausen-Walzer (1978-79)
  8. Söhne der Gastarbeita
  9. Finale: März Rap 1920