Mit der Zeitmaschine durch mehr als
100 Jahre Arbeiterlied im Ruhrgebiet

3. Der Kaiser hat in Sack gehaun (1919)

Eine Reise in acht Stationen: von Heinrich Kämpchen und den Streiks im Deutschen Kaiserreich über Grubenunglücke und Freikorpssoldaten in den 1920er Jahren und dem Faschismus, dem Wiederaufbau nach 1945, dem Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und gute und bezahlbare Wohnungen bis zu den Liedern der Arbeitsmigranten

  • Der Kaiser hat in Sack gehau’n     1919
  • Es braust ein Ruf wie Donnerhall
  • Im Ruhrgebiet da liegt ein Städtchen 1920
  • Muhs Lied

Wir stehen mitten in dem Hinterhof-Karree eines fünfstöckigen Mietskasernen-Blocks im Duisburger Norden. Wäsche hängt zum Trocknen aus. An einer Teppichstange hängt ein Schaukelseil und ein Junge baumelt bäuchlings darin. Ein paar Schritte von uns weg spielende Kinder, die Seilchen springen und auf den mit Kreide bemalten Hofplatten hinkeln und dabei singen. Es hört sich zuerst wie das Weihnachtslied an, aber sie singen es wie ein Spottlied. Beim näheren Hinhören erkennen wir auch den anderen Text:

Der Kaiser hat in Sack gehau‘n

Oh Tannebaum, oh Tannebaum, der Kaiser hat in‘ Sack gehau‘n.
Da kauft er sich ‘nen Henkelmann und Hingt bei Krupp als Dreher an.
Oh Tannebaum, oh Tannebaum – der Kaiser hat in‘ Sack gehau‘n!

Oh Tannebaum, oh Tannebaum, der Wilhelm hat in‘ Sack gehau‘n.
Auguste muß Kartoffeln stehl‘n, der Kronprinz muß Granaten dreh‘n
Oh Tannebaum, oh Tannebaum – der Wilhelm hat in‘ Sack gehau‘n!

Das haben sie zu Hause von den Eltern aufgeschnappt, wenn der Vater abends nach der Arbeit mit den Kumpels in der Küche sitzt und sie schadenfroh über die zusammengebrochene Monarchie herziehen und sich ausmalen, wie der Kaiser neben ihnen „auffe Maloche bei Krupp inne Pause den Henkelmann vonne Mutter leer löffelt“. Oder er jetzt endlich auch mal sein ,Fett abkriegt‘ und jetzt irgendwo bibbernd im Schweinestall sitzt, weil er auf der Flucht ist und gesucht wird. Pathetisch haben die bürgerlichen Fettsäcke abends beim Bier im ,Ratskeller’ gemeinsam mit beurlaubten Soldaten gegrölt: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall …“.

Und Spott ist jetzt die Retourkutsche der Hüttenarbeiter auf die Reaktionäre, wenn sie singen:

Es braust ein Ruf wie Donnerhall

Es braust ein Ruf wie Donnerhall, es sitzt ein Mann im Schweinestall.
Der einstmals war von hohem Stand, und Wilhelm II. sich genannt.
Er floh nach Holland hin geschwind, mit Stab und Hofnarr, Weib und Kind.
Das nennt man Lieb’ fürs Vaterland, wie er’s im Krieg so oft genannt …

Nur ein Jahr später an gleicher Stelle im sogenannten ,Dichter-Viertel‘ von Duisburg-Hamborn, unweit vom Hamborner Ratshaus sitzen und liegen verwegene Gestalten neben ihrer Gewehrpyramide auf dem Hinterhof und warten auf einen alten Vorarbeiter aus der Hütte, der schon 1914/18 ihr Truppführer war. Die Frau hat ihnen noch eine heiße Kraftsuppe nach unten gebracht, die sie aus ihren Feldgeschirr löffeln und schlürfen. Ein paar nutzen noch die Pause und rauchen ihre selbst gedrehte Zigarette, die Schlägermütze weit in den Nacken geschoben. Noch wusste keiner von ihnen, was da auf sie zukommt. Nur eines wussten sie:

Wir lassen uns doch nicht verarschen! Zuerst helfen wir durch unseren Generalstreik der geflüchteten SPD-Regierung unter Friedrich Ebert wieder in den Sattel, und dann schicken diese Blödmänner in Berlin genau dieselben Reaktionäre, diese putschenden Freikorps-Offiziere mit ihren Truppen ins Ruhrrevier gegen die streikenden Arbeiter. Der Karl, unser Truppführer, is‘ kein Kommunist, so’n Quatsch. Der is‘ sogar in‘ne christliche Gewerkschaft. Und wir sind nirgendwo drin. Die wollen nicht Ruhe und Ordnung herstellen, die wollen was ganz anderes. Die wollen uns plattmachen.

Wir haben in Berlin ihre Entwaffnung gefordert, die sollen für den Putsch zur Verantwortung gezogen werden. ,Brigade Ehrhard‘, genau das waren sie in Berlin, Marinebrigade, Hakenkreuz am Stahlhelm, unter schwarzweiß-roten Fahnen marschiert. Die marschieren jetzt für Noske, gegen uns. Wir sind denen zu radikal hier im Revier, aber wir lassen uns nicht alles gefallen.

Wo et hingeht? Nach Wesel, da bei Hünxe. Da haben se unsere ,Ruhrarmee‘ gestoppt. Wir müssen jetzt los zum Rathaus wegen dem Transport mit den LKWs. Die holen uns da ab!

Am Rathaus Harnborn auf der Duisburger Straße geht nichts mehr. Hier ist der Sammelplatz der ,Roten Ruhrarmee‘. Die Rotgardisten springen auf die Lastwagen, sehr oft darunter gediente Soldaten aus dem 1. Weltkrieg, die ihre alte feldgraue Uniform wieder herausgesucht haben, mit einem Gewehr, ihrer einzigen militärischen Ausrüstung. Einige sitzen noch nebenan im Cafe mit ihren nägelbeschlagenen Schuhen und stärken sich mit einem Stück Kuchen, die Handgranate auf dem Tisch abgelegt.

Daneben ein Fräulein mit Lackschühchen, die zum gewohnten Nachmittagskaffee gekommen ist. Plötzlich ein Pfiff, der nächste Lastwagen poltert über das Kopfsteinpflaster. Die Soldaten, in ihrem Gemisch von Zivil- und Militärkleidung mit Hut oder Mütze, klettern über die Wehr auf die Ladefläche. Der Transport nach Hünxe bei Wesel musste zügig gehen, der Vormarsch der ,Roten Armee‘ gegen die Reichswehr war zum Stillstand gekommen.

Ein paar hocken noch an der Mauer des Rathauses oder liegen auf dem Bordstein mit einer Jacke unter dem Kopf und fangen erst an zu summen, dann später hören wir leider erst den letzten Refrain des alten Soldatenliedes aus dem 1. Weltkrieg heraus:

Weinet nicht, ihr lieben Mädchen,
ach weint euch nicht die Augen rot.
Wir starben für die Freiheit
den schönsten Heldentod!

Die Melodie war bekannt, die neuen Strophen hatten sich unter den Rotgardisten mittlerweile herumgesprochen.

Im Ruhrgebiet, da liegt ein Städtchen

Im Ruhrgebiet, da liegt ein Städtchen, das kennt ein jeder schon.
Und in diesem kleinem Städtchen liegt eine Garnison.
II: von lauter Rotgardisten – ein ganzes Bataillon :li

Im Jahre 1920, da brach der Kapp-Putsch aus.
Da zogen die Rotgardisten zu Tausenden hinaus.
Beim letzten Abschiednehmen, beim letzten Scheideblick,
da riefen die vielen Mädchen: wann kehret ihr zurück?

Text: unbekannt

Viele Hunderte der Roten Ruhr Armee kehrten nicht wieder zurück. Gerade die Arbeiter im westlichen Ruhrgebiet erwiesen sich bei der Abwehr des Putsches durch die reaktionären Offizierskreise in Reichswehr und Freikorps als radikaler als ihre Kollegen im westlichen Teil. Sie lehnten die Abmachungen aus den Verhandlungen mit dem Reichskommissar Severing ab. Eine freiwillige Entwaffnung kam für sie nicht in Frage. Diese Spaltung der Arbeiter leitete die endgültige Niederlage ein. Der letzte Widerstand war gebrochen. Was nach dem Einmarsch der Reichswehreinheiten ins Ruhrgebiet geschah, wird bis heute in den Geschichtsbücher verschwiegen oder verfälscht. Bei ihren Racheaktionen nahmen die Freikorpsverbände Nazi-Methoden vorweg. Wehrlose Menschen wurden aus ihren Häusern gezerrt und kurzerhand erschossen, ihre Gesichter mit Kolbenschlägen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Besonders in den Arbeitersiedlungen wurde jetzt systematisch nach versprengten und geflüchteten Rotgardisten gesucht. Es wird ,gesäubert‘ – und denunziert von den Nachbarn.

Wir kriegen gerade mit, wie Kinder auf der Straße von den Freikorpssoldaten ausgefragt werden: „Dort hat sich ein Mann versteckt!“ und sie zeigen auf ein kleines Scheißhaus im Hinterhof. Der Mann wird rausgeholt und sofort an Ort und Stelle erschossen. Doch der 17-jährige Johannes versteht die Welt nicht mehr: „Der alte Muhs ist nicht mit zur Lippe-Front raus, sondern war zuhause in der Arbeiterwehr geblieben, hat also die Frauen und Kinder in der Siedlung geschützt. Der hatte doch selbst neun Kinder. Der war kein Kommunist, der war ein angesehener Bürger. Der wohnte doch nur 200 Meter weiter die Straße runter. Der Muhs ist denunziert worden. Den haben sie morgens aus dem Haus geholt und dann musste er sich sein eigenes Grab schaufeln.“ Johannes stand direkt in der Nähe dabei, als sie ihn erschossen haben. Das hat den Jungen so entsetzt und aufgewühlt, da hat er sich hingesetzt und auf die Melodie von dem bekannte Lied Der arme Waisenbub einen Text geschrieben. So etwas konnte der ]ohannes Leschinsky. Er singt uns das Lied vor, alleine und ganz ernst und nachdenklich:

Muhs Lied

Es liegt ein Städtchen schmuck und klein-
verschwiegen still am Niederrhein.
Dort starb im Kampf für Recht und Brot –
ein alter Rotgardist den Freiheitstod.

Ein Henkersknecht klopft bei ihm an:
Steh auf, steh auf, Spartakusmann,
Dein Leben ist dem Tod geweiht –
du wirst erschossen, mach dich bereit.

Er schaufelt sich sein eigen Grab,
er wendet sich verächtlich ab;
Ans Werk, ihr Henker, tut eure Pflicht,
ein alter Rotgardist, der zittert nicht.

Schon schlagen seine Schergen an –
fest steht der alte Spartakusmann:
Schießt gut, ihr Henker, hier stehe ich.
Lebt wohl, ihr Brüder, und rächet mich!

Die Salve kracht, sein Auge bricht –
so starb ein Mann für Recht und Pflicht.
Ein trotzig Lachen um Aug‘ und Mund –
so ging der alte, alte Muhs zugrund‘.

Schweigend brach die Nacht herein –
man grub den stillen Schläfer ein.
Nur der Mond, der schaut herab –
und küßt ein einsam Rotgardistengrab.

Wir nennen sein Lied später das Muhslied

Text: Johannes Leschinsky (geb. 1903)

Und auch er wendet seinen Blick ab und wagt nicht, uns dabei anzusehen, während er singt. Diese Geschichte geht ihm heute noch nah und hat ihn geprägt.

Kohlengräberland

Kohlengräberland

Kohlengräberland – Zeitmaschine: Lieder aus dem Ruhrgebiet 1889 – 1920 – 1967 – 2003

  1.  Intro: Die Zeitmaschine startet
  2. Im Ruhrkohlengebiet (1904)
  3. Auf der Schwarzen Liste (1889 - 1911)
  4. Der Kaiser hat in Sack gehaun (1919)
  5. Der Ruhrkumpel spricht
  6. Mein Vater war Bergmann
  7. Bruckhausen-Walzer (1978-79)
  8. Söhne der Gastarbeita
  9. Finale: März Rap 1920